Der Tod wohnt nebenan Kriminalroman
zu einem sanfteren Ort, an dem man nachdenken kann, und wenn es nur über den Tod ist.
»Ich verstehe das sehr wohl. Vielleicht warst du damals diejenige, die nichts begriffen hat, Mabel.«
»Natürlich habe ich es begriffen. Mir war sofort klar, dass dies ein wichtiger Moment in meinem Leben war, aber ich schob es auf die Gefühlsaufwallung, so war’s. Das Glücksgefühl darüber, dass der Mann und das unbekannte Kind am Leben waren. Wenig später saßen wir in der Bahnhofskneipe. Ich hatte ihn eingeladen, etwas trinken zu gehen, um seine Lebensgeister wieder zu wecken. Ich sagte, dass er sich wie ein Held verhalten habe. Ich wollte für ihn bezahlen. Ein dummes Angebot, denn ich hatte kein Geld dabei. Er war eher beschämt als glücklich darüber. Er sagte, es sei ein Reflex gewesen, dafür brauche man kein Held zu sein.«
»Ich glaube doch, dass man das sein muss. In den Reflexen erkennt man das wahre Wesen eines Menschen«, sagte Ruth, und Mabel antwortete:
»Genau das habe ich ihm auch gesagt. Da sagte er mir, es gäbe einen Grund dafür.«
»Was für einen?«
»Der Junge, der auf die Gleise gefallen war, war genauso alt wie sein Sohn, als er bei einem Überfall getötet wurde. Er sagte: »Ich habe nur daran gedacht. Ich dachte, dass es mein Sohn ist.« Und dann füllten sich seine Augen mit Tränen. Vielleicht ist ihm in dieser Bahnhofskneipe zum ersten Mal wirklich bewusst geworden, dass sein dreijähriger Sohn für immer von ihm gegangen ist.«
Mabel hatte gesagt, was sie sagen wollte, aber sie verließ das Zimmer nicht. Jetzt lag Schmerz auf ihrem Gesicht, vielleicht Wehmut, Selbstmitleid.
»Ich vermute, ich muss Sie enttäuschen, Señora, aber ich habe die Ehre, Ihnen mitteilen zu können, dass wir nicht miteinander vögeln. Man ist vielleicht eine Hure, aber nicht immer. Der Mann wollte nur reden, und das haben wir getan, uns gegenseitig Gesellschaft geleistet. Das Merkwürdige ist, dass er nicht über sich sprechen wollte. Das heißt, er hat kaum über sich gesprochen. Er tat etwas anderes.«
»Was?«
»Jemand wie du wird das nie verstehen.«
»Du solltest die Hoffnung nie aufgeben, manchmal verstehen sogar Tiere etwas.«
»Es ist verschwendete Zeit, Ruth, aber ich werde es dir erzählen: Der Mann hat das Leben seines Sohnes rekonstruiert.«
»Wie meinst du das?«
»Siehst du jetzt, dass du es nicht verstehst?«
»Bitte … Ich vermute, es ist kompliziert, denn das Leben eines dreijährigen Kindes kann man wohl kaum rekonstruieren. Ganz einfach, weil es dieses Leben nicht gegeben hat. Aber du wirst es mir schon so erklären, dass ich es verstehe, Mabel. Dass sogar ich es verstehe.«
»Hoppla … Jetzt schmeichelst du mir aber. Aber das ist gar nicht nötig, eigentlich erinnere ich mich gern daran. Es ist vielleicht das einzig Schöne, das mir im Leben widerfahren ist. Er sagte mir, sein Sohn sei in Wahrheit nicht gestorben, aus dem einfachen Grund, weil er dafür sorge, dass er weiterlebt. Sein Sohn würde vier, fünf, sechs werden … Auf die Schule gehen. Und er, sein Vater, würde die Schule kennenlernen, auf die sein Sohn ging. Er würde die Klasse besuchen, mit der Lehrerin sprechen, mit den anderen Kindern herumalbern. Mal sehen, ob ich es erklären kann: Er wollte sein Sohn sein, er würde Punkt für Punkt all das machen, was sein Sohn getan hätte. Er würde ihn durch sich selbst wieder zum Leben erwecken.«
»Ich habe noch nie eine so tröstliche Geschichte gehört«, flüsterte Ruth.
»Ja.«
»Und so vergeblich.«
»Du hast Recht, Ruth. Es ist eine Geschichte, die der Vergeblichkeit geweiht ist, dann dem Verschwinden und schließlich dem Schweigen. Aber es ist etwas Großartiges an ihr, wie du siehst. Dieser Mann muss ein sehr guter Mensch sein. Das war das Erste, was ich zu ihm sagte, während die Leute an uns vorbeigingen, während die Leute verschwanden und nur noch wir beide auf der Welt waren. ›Du musst ein guter Mensch sein.‹ Und er erwiderte, nein, ganz im Gegenteil. Schmerz führe nicht zu Güte, sondern zu Rache. Er habe getötet, als man versuchte, seine Bank zu überfallen, und er hoffe, wieder töten zu können. ›Dieses Mal‹, sagte er, ›werden die Toten weinen.‹ Doch er wusste nicht, ob es ihm gelingen würde. Eher würde man ihn töten. Das ist die Geschichte, Ruth. Zum Glück hast du mir das Reden beigebracht, sonst hätte ich sie nicht erzählen können.«
17
PAFF !
Wie der Knall eines Korkens, weniger laut als der einer billigen Flasche
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