Der Tod wohnt nebenan Kriminalroman
es arrangieren, dass du nicht leiden musst und niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann. Aber ganz so einfach ist es nicht … Ich könnte es nicht tun. Und er müsste erst einmal zustimmen.«
Ruth riss die Augen auf und hob den Kopf, als wollte sie die hoffnungsvollen Worte aufsaugen. Aber dann dachte sie, dass Mabel sie vielleicht nur wieder hinters Licht führt. Also schloss sie die Augen wieder.
Eine weitere Schweißperle zerplatzte am Boden.
»Mabel, ich hatte den Eindruck, dieser Mann bedeutet dir was. Es ist nicht nur Freundschaft wie bei den anderen.«
»Man weiß nie, wann Freundschaften mehr Bedeutung bekommen. Vieles geschieht rein zufällig.«
»Auch in diesem Fall?«
»Ja, vielleicht war es ein Zufall. Die Dinge geschehen einfach, sie lassen sich nicht berechnen. Es ist an der Haltestelle am Paseo de Gracia passiert.«
»Dort war ich früher auch oft«, wisperte Ruth. »Ich bin so alt, ich erinnere mich daran als an eine Zeit, in der ich mich noch unter freiem Himmel bewegte. Und was ist an der Haltestelle passiert?«
Ruth hatte schon zu viele Jahre mit Mabel verbracht. Es war ihr also nicht entgangen, dass die andere gern darüber reden wollte. Es musste ein nettes Erlebnis gewesen sein, wer hätte das gedacht. Und Mabel würde erleichtert sein, wenn sie darüber sprechen konnte.
»Es ist schon eine Weile her. Viele Leute warteten auf den Zug, wie immer. Na ja, heute sind es noch viel mehr Menschen als früher, denn Barcelona platzt aus allen Nähten. Unter all den vielen Leuten rutschte ein Kind aus und fiel auf das Gleis.«
»Und?«
»Der Zug kam. Es geschah alles so plötzlich, und es war so schrecklich, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt dazu kam, etwas zu denken. Vielleicht nicht einmal das. Die Leute fingen an zu schreien, der Mann war der Einzige, der sich bewegte. Ich weiß nicht, wie er so schnell springen konnte, wirklich nicht. Wie durch ein Wunder holte er das Kind vom Gleis, während man das schreckliche Quietschen der Räder des Zuges hörte, der natürlich nicht mehr rechtzeitig hätte bremsen können. Er hob den Jungen vom Gleis und warf ihn auf den Bahnsteig, zwischen die Füße der Leute, die nichts anderes taten als kreischen … Er war immer noch auf dem Gleis, fast schon unter den Rädern. Er nahm alle Kraft zusammen, sprang und streckte dabei eine Hand aus, damit jemand sie fassen konnte, um ihn hochzuziehen. Ich sehe es noch vor mir. Es war das erste Mal, dass ich den Tod in den Augen eines anderen gesehen habe. Zwei Menschen hielten ihm die Hand hin, einer davon war ich, und dann zogen wir ihn hoch. Er war schon auf dem Bahnsteig, als der Zug ihn erwischte. Seine Kleidung wurde aufgeschlitzt. Er hat nicht einmal geschrien.«
Mabel hatte ihre Geschichte erzählt. Mit einer verächtlichen Miene – es schien ihr bevorzugter Gesichtsausdruck zu sein – fügte sie hinzu:
»Das war’s.«
»Nein, das war es nicht. Ich muss sagen, ich bin froh, dass ich dich danach gefragt habe, Mabel. Du hast viele schmerzliche Erinnerungen, aber diese tut dir gut. Und es wird dir auch nicht wehtun, mir zu sagen, ob ihr dadurch Freunde geworden seid.«
»Ja.«
»Nun, es hört sich so an, als hättest du ihm das Leben gerettet.«
»In Wirklichkeit hat er sich selbst gerettet, weil er schnell genug reagiert hat. Außerdem war es ja nicht nur meine Hand, da war auch die des anderen Mannes. Aber der hat ihn nur gefragt, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Dann ist er schnell in den einfahrenden Zug gestiegen. Auch der Vater hat sein Kind auf den Arm genommen und ist eingestiegen, ohne sich zu bedanken. Plötzlich hatte es den Anschein, als wären nur der Mann und ich auf dem Bahnsteig, und wir sahen uns in die Augen. Es war ein derart sinnloser, dummer Moment, dass er sogar einer Frau wie mir wunderbar erschien. Du hast nie darüber nachgedacht, Ruth, aber alle wunderbaren Momente sind sinnlos. Wahrscheinlich kannst du das auch gar nicht verstehen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden und uns ansahen, ohne den Lärm des Zuges und der Leute wahrzunehmen. Und dann war mit einem Schlag alles zu Ende. Der Mann fing an zu weinen.«
Mabel hörte auf zu sprechen, verzog den Mund, jetzt nicht mehr sarkastisch, sondern bitter, und drückte die Klinke nach unten, als wolle sie gehen. Die Sonne war – so wie sie angekündigt hatte – verschwunden. Sie hat jetzt Feierabend, dachte Ruth. Eine graue Wolke scheint in den Raum zu schweben und lässt ihn mit einem Mal heimeliger werden,
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