Der Tod wohnt nebenan Kriminalroman
Richter hat sich quergestellt und entschieden, dass man eine gewisse Zeit verstreichen lassen müsse, um meinen Eltern eine Chance zu geben, sich zu melden. Man hat mich in ein Heim gesteckt.«
Der Hauptkommissar seufzte:
»Es wundert mich, dass Sie nicht adoptiert wurden, Señorita Eva. Alle Welt will kleine Mädchen, es werden sogar Reisen mit Bankbürgschaft organisiert, um die Enkelinnen der russischen Polit-Hauptkommissare und die kleinen Chinesinnen zu retten, die im Gelben Fluss ertränkt werden sollen. Sie waren in greifbarer Nähe. Es wundert mich, dass man Sie nicht adoptiert hat.«
»Ich war ein äußerst unangenehmes Kind. Ich weinte ununterbrochen und schlug jeden, der mich auf den Arm nehmen wollte. Es lag wohl daran, dass ich gerade zahnte, aber das hat damals niemanden interessiert. Außerdem haben Adoptiveltern mit vielen Problemen zu kämpfen. Wenn eines Tages die richtigen Eltern auftauchen, müssen sie das Kind zurückgeben. Und noch was, Herr Hauptkommissar, wenn man älter wird und zudem garstig ist, will einen keiner mehr.«
»Na ja, gut. Wenigstens verlässt man diese Häuser mit einer Ausbildung.«
»Das kommt auf das Haus an, und ich kann Ihnen sagen, da laufen viele Päderasten herum. Und in den Jungenheimen ist es noch schlimmer, von dort hat man mir schreckliche Dinge erzählt, Herr Hauptkommissar, in dieser Stadt, in der alles so wohl geordnet ist. Aber mit eigenen Augen habe ich es nicht gesehen, denn ich bin abgehauen.«
Die Zigarre von Señor M. ging aus. Das war nicht verwunderlich, denn manchmal gingen selbst die Havannas aus. Er schrieb etwas in seinen Bericht und murmelte:
»Durch so was ist alles verbaut.«
»Klar, vor allem wenn du dich mit den Einzigen verbündest, die dich in einer solchen Situation haben wollen. Sie haben bestimmt schon von den Straßenkindern in Brasilien gehört, Herr Hauptkommissar, und Sie werden denken, im süßen Barcelona voller Restaurants, Industrieller mit Geliebter und Politiker mit Chauffeur gäbe es solche Kinder nicht, doch es gibt sie. Wir schliefen in Tunneln, wir bettelten und stahlen. Wir mussten uns nur um den Schlafplatz kümmern, alles andere war organisiert. Mit dem Minderjährigengesetz in der Hand kann dir nichts passieren, außer dass sie dich in eine Anstalt stecken, aus der du wieder abhaust. Einige professionelle Banden nützen das aus.«
Señor M. nickte, er kannte das Problem gut, und nach einer Flut von Konferenzen, Kursen und Seminaren war er zu einem Schluss gelangt, der ihn sehr beruhigte. Man konnte nichts tun, weil jede Lösung nur eine schlechte Lösung sein konnte. Zudem ging Señor M. erneut die Zigarre aus und er fluchte auf die modernen Zeiten und sagte, nicht einmal Handarbeit hätte noch Qualität. Eva sagte, sie habe sehr wohl Handgemachtes kennengelernt, das Qualität gehabt hatte. Señor M. fluchte wieder, aber auf weit bedeutendere und größere Dinge.
»Ich bin zweimal abgehauen«, fuhr das junge Mädchen fort, »und so wurde ich zu einer hoffnungslos verlorenen Straßenhündin, obwohl ich mir manchmal selbst leidtat und allein weinte. Ich bin sicher, alle einsamen Hündinnen weinen. Ich lernte, dass Barcelona nicht Barcelona ist, sondern ein riesiges Randgebiet, wo Leute leben, die scheinbar nirgendwo leben. Aber in dieser Zeit lernte ich auch, dass ein nettes Wort, das jemand sagt, vielleicht nicht hilft, aber dich wenigstens kurz zum Nachdenken bringt. Als ich später darüber nachdachte, konnte ich mich nicht erinnern, dass je irgendjemand zu mir ein nettes Wort gesagt hätte – außer dieser einen Frau.«
»Was für eine Frau?«
»Es war eine alleinstehende Fünfzigjährige, attraktiv, sanft, die mich in einer Notaufnahme aufgabelte, zum Essen einlud, mir was zum Anziehen kaufte und sagte, ich sei ein bezauberndes Mädchen und es müsse ein besseres Schicksal für mich geben. Ich begriff, wie dieses bessere Schicksal für mich aussehen würde, als sie anfing, mich auf den Mund zu küssen. Trotzdem denke ich manchmal, ich hätte bei ihr bleiben sollen. Sie war der einzige Mensch, der mir für wenig Einsatz viel gegeben hätte. Als ich Flittchen zu ihr sagte und mich auf dem Absatz umdrehte, bat sie mich um Verzeihung und fing an zu weinen. Auf der Straße fing auch ich an zu weinen. Noch nie war die Stadt mir so riesig und traurig vorgekommen. Verstehen Sie, was ich meine, Herr Hauptkommissar?«
Hauptkommissar M. ließ seinen Beamtenblick ins Leere schweifen. Seine Zigarre war schon wieder
Weitere Kostenlose Bücher