Der Tod wohnt nebenan Kriminalroman
Mädchen, die nichts gesehen haben und sich nichts mehr wünschen, als von ihrer Straße wegzukommen.«
Ja, dachte Méndez, die Skelette der Häuser, die Frauen, die sich vielleicht an das erinnern, das nie existiert hat (denn das, was existiert hat, ist der Erinnerung nicht wert), ein Dichter, der auf dem Balkon schreibt, weil er in die Wohnung nicht hineinpasst, ein Lied im Innenhof und ein aus dem Kastell ausgebüchster Spatz.
Komm schon, Méndez, vergiss das alles, indem du es mit einem weiteren Glas ökologischen Likör hinunterkippst.
Und so blieb Méndez allein, nicht nur mit einem Dienstverfahren am Hals, sondern auch vergiftet in den Straßen des alten Viertels zurück. Méndez betrachtete erneut die Balkone, die ihm als Beweis dafür dienten, dass es mit dem Land aufwärtsging, denn eine Bewohnerin hatte zur Wiederaufforstung einen Blumenkübel aufgestellt. Eine andere Bewohnerin stellte dort einen Käfig zur Schau, in dem sie ihren Vogel Urlaub machen ließ. Er sah die kleinen Läden von früher, die Kneipen von früher, die Frauen ohne Illusionen, die Frauen von früher. Er sah Mädchen, die ihren Hintern zeigten, ein paar Rocker, die zeigten, was sie in der Hose hatten. Er sah eine Beerdigung.
Méndez, von Natur aus fromm, dachte:
Mist!
Die Leute sterben heutzutage nicht mehr zu Hause, sie sterben in den Großkrankenhäusern der Seguridad Social, umgeben von Pflegepersonal, das sie noch nie gesehen haben, und diktieren ihren letzten Willen demjenigen, der ihre Trage schiebt. Glücklich diejenigen, die sich zumindest noch vom Foto ihrer Kinder verabschieden können, denn das wird ihre letzte Erinnerung sein.
Also eine Beerdigung.
Méndez schloss aus der Eingangstür, aus der der Leichnam getragen wurde, und den Initialen auf dem Sarg, dass der ehrenwerte Tote Julián Andrade war, ein Polizist, der noch älter war als er, fast schon mumifiziert, und der von den Straßen seiner Kindheit verabschiedet wurde. Denn Julián Andrade hatte immer schon dort gelebt, er hatte sich für jugendliche Straftäter eingesetzt, eine scheinbar wohltätige Aufgabe, die in Wahrheit aber eine der härtesten war, mit der man das menschliche Gewissen konfrontieren kann. Denn Andrade hatte alles gesehen: klauende Kinder, die bei ihrer Verhaftung weinten, Väter, die sich vor ihren Töchtern aufgeilten, und Mädchen, die an geheimen Orten vergewaltigt wurden und wenn sie von ihm gefunden wurden, noch die Zunge im Mund kreisen ließen.
Andrade hat alles gesehen, dachte Méndez. Er wird nicht einmal in Frieden ruhen können.
Es gingen natürlich nur wenige Leute zu der Beerdigung oder besser gesagt zu der Aufbahrung, denn heutzutage werden die Toten ins Beerdigungsinstitut gebracht und müssen für die Logis auch noch selbst aufkommen. Kein älterer Mensch erinnerte sich an den alten Polizisten, denn alle alten Menschen waren tot, und auch kein junger, denn die waren zur Zeit seines Ablebens alle auf Bewährung. Doch einer erinnerte sich sehr wohl.
Miralles, der Bodyguard, und Eva, seine Assistentin, begleiteten den Sarg. Von einer Verbindung zu dem Verstorbenen war ihm nichts bekannt.
Méndez fragte sich völlig ratlos: Wieso?
Und dann kamen ihm mindestens zehn Schimpfwörter in den Sinn, die einem helfen, Klarheit zu gewinnen.
Aber er sprach keines laut aus.
22
Nichts konnte Méndez daran hindern, zum letzten Mal die Wohnung von Andrade anzuschauen, dieses Ermittlers im Ruhestand, der am meisten über die minderjährigen Straftäter von Barcelona wusste. Für Méndez war es so, als verabschiedete er sich von der Vergangenheit des Toten, die auch seine eigene war. Er ging also zu Comellas, der in früherer Zeit Andrades Anwalt gewesen war, als der mal ein Verfahren wegen der Miete für seine Wohnung am Hals gehabt hatte. Comellas war damals ein kritischer, linker junger Anwalt gewesen, also ein Anwalt mit Zukunft, heute war er ein alter angepasster Anwalt, ein Anhänger des Friedens zwischen den Völkern, also einer ohne jede Zukunft.
Comellas erklärte:
»Das Letzte, das ich für Andrade getan habe, war, ihm bei der Übertragung seiner Wohnung zur Seite zu stehen. Denn erst hatte er sie nur gemietet, aber später gekauft, und als er das Alter erreichte, das gottverdammte Alter, haben wir einen Kauf auf Rentenbasis draus gemacht. Sie kennen das: Eine Bank oder eine Sparkasse zahlt dir eine kleine Rente, solange du lebst – weil die Pension nicht mal für den Tabak reicht –, und an dem Tag, an dem du den Löffel
Weitere Kostenlose Bücher