Der Todesengel von Florenz

Vorhaben.
    Niccolo Landozzi war dankbar für die Atempause. Sie verweilten einen Augenblick auf der Plattform, und dann setzten sie ihren Aufstieg fort.
    »Kain«, sagte der Todesengel unvermittelt, blieb stehen und leuchtete dem Sensale ins Gesicht. »Sagt, habt Ihr Euch schon einmal Gedanken über Kain und das Menschengeschlecht gemacht?«
    »Wie bitte? Sprecht Ihr von Kain, dem Bruder Abels?«
    »Genau den biblischen Gesellen meine ich.«
    »Gedanken? Nein, wie sollte ich auch?«, fragte Niccolo Landozzi verwirrt zurück und blinzelte ins Licht. »Jedenfalls wüsste ich keinen triftigen Grund, warum ich mir darüber Gedanken machen sollte. Was es dazu zu sagen gibt, steht in der Bibel, jedes Kind kennt das.«
    »Aber nicht jeder macht sich die Mühe, Betrachtungen anzustellen, die ein bisschen über das allgemein Bekannte hinausgehen. Dabei wäre das sehr lohnend.«
    »Ich weiß wirklich nicht, wovon Ihr redet«, sagte der Sensale verwirrt, aber er war froh über die weitere Pause, die sich ihm durch die merkwürdige Anwandlung des Mannes über ihm bot.
    »Nun, denkt doch mal nach, mein Bester. Wer war denn noch übrig, als der arme Tropf Abel mit eingeschlagenem Kopf am Boden lag?«, insistierte der Todesengel.
    »Kain natürlich. Wer denn auch sonst?«
    »Richtig, der tüchtige Kain! Aber nun denkt einmal einige …« Er gab sich den Anschein, als zögere er und suche nach den richtigen Worten. »Nun, sagen wir es ruhig ein wenig grob: einige lustvolle Bocksprünge unseres Vorfahren Kain weiter. Dann gelangt Ihr doch gewiss wie ich zu der logischen Schlussfolgerung, dass alle seine Abkömmlinge von einem beherzten Mörder abstammen«, fuhr der Todesengel in beschwingtem Ton fort, als unterhielten sie sich über eine gelungene Volksbelustigung. »Und damit letztlich auch wir, werter Sensale, Ihr genauso wie ich. Ist es nicht erstaunlich, dass wir beide den Stammvater aller Mörder zu unseren Ahnen zählen müssen? Ich bin sicher, es gibt in der langen Reihe unserer Vorfahren noch einige andere dieser Art, die Euren wie meinen Stammbaum schmücken, aber dieser gehört uns beiden.«
    Verstört blickte Niccolo Landozzi zu ihm auf. »Der tüchtige und beherzte Mörder Kain?«, wiederholte er indigniert. »Also entschuldigt, aber Euren merkwürdigen Scherzen weiß ich nicht das Geringste abzugewinnen!« Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da gehört hatte. »Weiß der liebe Gott, wie Ihr gerade jetzt auf solche … abartigen Gedanken kommt!«
    Der Todesengel machte eine Miene des Bedauerns. »Eine gute Frage, Sensale. Seht es mir nach, seid so gut! Ich nehme an, es hat mit dem Todesengel zu tun, der in unserer Stadt umgeht, dass mir so etwas in den Sinn kommt.«
    »Vermutlich«, knurrte der Sensale. »Also dann, geht weiter voran, damit wir endlich nach oben kommen. An den Abstieg will ich lieber nicht denken.«
    »Ach, der wird Euch wie im Fluge vorkommen«, versicherte der Todesengel.
    Niccolo Landozzi schüttelte nur stumm den Kopf.
    Der Todesengel ging die letzten beiden Stiegen schneller an, so dass er einige Augenblicke Vorsprung hatte, als er schließlich hoch über den Dächern der Stadt zu dem Ausstieg kam und auf die Plattform trat. Diese war bedeutend solider angelegt als die tief unten liegende, wo das Seil endete. Über ihm zeichneten sich die Hebelanlage mit dem seitlich angesetzten Klöppel und die darüberhängende Glocke als schwarze Umrisse ab. Die Tauben, die sich auf der Brüstung zwischen den sanft gerundeten Säulen und Trägern des Daches niedergelassen hatten, bekundeten laut gurrend ihren Unmut über die Störung in ihrem Revier, flatterten auf und flogen davon.
    Er löschte eilig das Licht in der Laterne, stellte sie auf den Boden, ließ den Leinenbeutel danebenfallen und zog unter seinem Umhang eine Garrotte hervor.
    Heftig nach Luft schnappend, kam Niccolo Landozzi die letzten Stufen herauf. »Warum habt Ihr das Licht gelöscht?«, schimpfte er unter lautem Keuchen. Dann blickte er sich um und rief, als er außer ihnen beiden niemanden sah: »Wo, zum Teufel, ist …?«
    Die Worte, die noch hätten folgen sollen, blieben ihm buchstäblich im Hals stecken, als der Todesengel ihm von hinten die Garrotte um die Kehle legte und ihm die Luft abschnitt.
    »Ehe ich es vergesse und du es nicht mehr mitbekommst: Der tüchtige Kain, dein Stammvater, lässt grüßen, Sensale!«, flüsterte er ihm ins Ohr.
    Niccolo Landozzi quollen die Augen aus den Höhlen. Er würgte und