Der Todesengel von Florenz
unheimlicher Schatten auf, den er hinter den Säulen der Turmgalerie gesehen zu haben glaubte. Bald wurden aus dem undeutlichen Schatten die klaren Umrisse einer Gestalt mit Flügeln, und am Ende erinnerte er sich auch noch an ein Schwert, das die Engelsgestalt einen winzigen Moment lang geschwungen hatte. Er meinte, es sei von Flammen umzüngelt gewesen.
Ja, er habe wohl wahrhaftig mit eigenen Augen den Todesengel gesehen, der Herr sei sein Zeuge! Nun aber müsse er – nach dem vielen Erzählen, zu dem man ihn andauernd dränge, obwohl er doch lieber nicht über seine furchteinflößende Begegnung mit dem Todesengel reden wolle –, also nun habe er eine so trockene Kehle, dass er unbedingt einen ordentlichen Schluck brauche, damit ihm die Stimme nicht wegbleibe. Wie? Noch ein Krug? Nun, wenn er ihm derart freundlich angetragen werde, dann wolle er doch schon um der Liebe Christi willen den Wein des guten Mannes nicht verschmähen. Obwohl er jetzt, weiß Gott, viel lieber in seiner Kammer sitzen und der seligen Jungfrau mit einem Gebet dafür danken würde, dass sie ihn davor bewahrt hatte, vom Flammenblitz des Schwertes geblendet zu werden. Nun, das lasse sich ja zu späterer Nachtstunde noch nachholen, wache die Gottesmutter doch allzeit über sie. Für den Moment gelte es wohl, den guten Wein nicht verkommen zu lassen …
37
D ie erste, knappe und der Wirklichkeit entsprechende Version der Geschichte bekamen Pater Angelico und Bruder Bartolo schon kurz nach dem Sturz des Sensale zu hören. Sie traten gerade aus der Via de Martelli, die zwischen der achteckigen Taufkirche und einer weiteren Kirche auf den Domplatz mündete. Den Sturz selbst sahen sie nicht, doch sie hörten das entsetzte Geschrei der Leute, die sich sogleich um die Leiche drängten und einen dichten Ring um sie bildeten. Schrille Stimmen riefen nach einem Priester und nach Amtsbütteln.
»Da muss etwas Schreckliches passiert sein!«, stieß Bruder Bartolo hervor. »Die Leute rufen nach einem Priester, Meister! Da muss einer dem Tode nahe sein!«
»Komm!«
Energisch bahnte sich Pater Angelico mit seinem Novizen einen Weg durch die aufgeregte Menschenmenge. Er fühlte sich auf unheimliche Weise an den Morgen auf der Via Sant’Anna erinnert, als Scalvetti ihn zu Pater Nicodemos Leiche hatte rufen lassen. Und seine böse Ahnung bestätigte sich, als er den Ring aus zusammengelaufenen Leuten endlich durchbrochen hatte und sah, was das Geschrei hervorgerufen hatte.
»Teufel auch, der Hund hat wieder zugeschlagen«, presste er in ohnmächtigem Zorn hervor. Damit hatte die Bestie den dritten Menschen auf dem Gewissen.
»Allmächtiger!« Bruder Bartolo sog scharf die Luft ein und bekreuzigte sich.
Ohne einen Fetzen Stoff am Leib lag Niccolo Landozzi vor ihnen. Sein Hinterkopf war zertrümmert. Der Mörder hatte dem Sensale die Augen ausgestochen und kleine runde Holzstücke in die blutigen Höhlen gepresst; er hatte dem Mann die Zunge der Länge nach aufgeschnitten, die rechte Hand vom Arm getrennt und sie ihm um den Hals gebunden. Mit zwei weiteren Stricken waren Hals und Fußgelenke verbunden.
Wie auch bei den beiden anderen Opfern hatte der Täter blutverschmierte Schnittmarkierungen auf dem Leib des Toten hinterlassen. Auch die Tarotkarte fehlte nicht. Sie glänzte von Wachs und hing an einer dünnen Kordel, deren anderes Ende der Mörder dem Toten durch die Nasenwand gezogen und dort verknotet hatte.
»Was für ein Ungeheuer!«, rief Pater Angelico voller Abscheu und kniete sich neben den Toten.
Harsche, befehlsgewohnte Stimmen verrieten, dass die ersten bewaffneten Stadtbüttel eingetroffen waren. Sie drängten die Gaffer zurück.
»Einer muss Commissario Positano benachrichtigen!«, rief einer von ihnen. »Das hier ist sein Bezirk.«
»Nein, holt Commissario Scalvetti«, widersprach ein anderer. »Ihr seht doch, dass der Todesengel wieder zugeschlagen hat. Scalvetti hat den Fall und alles, was damit in Verbindung stehen könnte, an sich gezogen. Also macht schon! Gebt ihm Bescheid, dass es wieder einen mit Tarotkarte und Messerschnitten gibt!«
»Bin schon weg, Pietro!«
»Da drüben liegt ein Tuch, Pietro, mit dem man die Leiche abdecken kann. Diesem Anblick sollte man sich nicht lange aussetzen, oder?«
»Dann her damit!«
Jemand rief von hinten: »Ich habe gesehen, wie er gefallen ist! Ich bin Amtsdiener beim Gericht! Lasst mich zu den Bütteln durch! Sie werden wissen wollen, was ich gesehen habe.«
Man ließ den Amtsdiener
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