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Der Todesengel von Florenz

Der Todesengel von Florenz

Titel: Der Todesengel von Florenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Gherardo Calvano, seines Zeichens Kerzenzieher und Schöpfer von Wachsbildnissen.
    Die Florentiner waren fromm; sie liebten Prozessionen, versäumten selten einmal die Morgenmesse und beendeten den Arbeitstag so oft wie möglich mit dem Besuch der Vesper. Aber wie ihre Landsleute in anderen Städten, Dörfern und Weilern Italiens bewahrten sie sich auch einen ausgeprägten Hang zu abergläubischen Praktiken, die ihre Wurzeln in heidnischer Zeit hatten. Gebete und Fürbitten waren zweifellos gut und schön und mochten gelegentlich auch die erhoffte Wirkung erzielen. Es schadete jedoch nichts, ihnen in besonders dringenden Fällen Nachdruck zu verleihen. Dann ging man zu einem Fallimagno und beauftragte ihn, aus Wachs ein Bildnis seiner selbst oder jener Person anzufertigen, für die man im Himmel etwas erbitten wollte. Dieses Bildnis stellte man in einer der Kirchen oder in einer Kapelle vor die Muttergottes, die Statue des jeweiligen Namenspatrons oder eines anderen Heiligen, in dessen Zuständigkeit die erflehte Hilfe fiel. Und je lebensechter der Fallimagno das Wachsbildnis zu gestalten vermochte, desto besser waren nach allgemeiner Überzeugung die Aussichten, dass die Bitte erhört wurde. Gherardo Calvano war jedenfalls einer der besten Bildnismacher der Stadt.
    Wobei genau genommen nicht mehr er die Wachsbildnisse anfertigte, sondern seine Frau Bartolomea. Schon seit Jahren führte sie an seiner Stelle die Aufträge aus, und sie hatte den Lehrling Gismondo ausgebildet, wenn auch hinter verschlossener Werkstatttür. Die Augen des alten Gherardo taugten längst nur noch zum Kerzenziehen. Dafür arbeitete seine gut zwanzig Jahre jüngere Frau, mochte sie auch noch so ein zänkisches, abscheuliches Lästermaul und versoffenes Weibsstück sein, kunstfertiger, als er es jemals vermocht hatte.
    Freudig erregt wartete der Mann darauf, endlich zur Tat schreiten zu können. Nun konnte es nicht mehr lange dauern. Die dunklen Schatten des Abends hatten sich über Florenz gesenkt und die Via Sant’Anna in trübe Dunkelheit gehüllt. Die Glocke der nahen Kirche Santa Maria Maddalena hatte soeben den Beginn der Vesper verkündet. Jeden Augenblick musste Gherardo Calvano mit seinem Lehrling aus dem Laden kommen.
    Gismondo hatte seine Gesellenprüfung bestanden, wenn auch nur mit Ach und Krach. Mittlerweile hatte er auch das Geld zusammen, das er für seine Aufnahme als Geselle in die Gilde zu entrichten hatte. An diesem Abend würde der Alte ihn ins Gildenhaus bei Orsanmichele führen und ihn durch den feierlichen Eintrag in die Handwerkerrolle zu einem rechtmäßigen Mitglied der Arte dei Medici, Speziali e Merciai machen, in der Ärzte, Apotheker und auf besondere Waren spezialisierte Ladeninhaber zusammengeschlossen waren. Sie war eine der sieben hohen Gilden der Stadt, neben denen es noch vierzehn niedere Arti gab.
    Der Mann machte sich bereit. Er wollte sich schon erheben, als er bemerkte, dass er noch nicht einmal die Hälfte seines Biers getrunken hatte. Den Steinhumpen so auf dem Tisch zurückzulassen wäre ein Fehler gewesen, und noch so kleine Fehler konnten unter ungünstigen Umständen zum Verhängnis werden. Kein Wirt erinnerte sich an einen maulfaulen Gast, der seinen Humpen ausgetrunken hatte. Aber einer, der mehr als die Hälfte seines Trunks verschmäht hatte, würde sehr wohl im Gedächtnis bleiben. Das Canto del Gallo war nicht der Ort, an dem man auch nur einen Schluck verschenkte. Also führte der Mann den Humpen an den Mund und zwang sich, ihn bis auf den Grund zu leeren. Das Dünnbier ekelte ihn an, aber es musste sein – um der guten Sache willen, für die er gleich wieder Blut vergießen würde.
    Er rang sich ein Rülpsen ab, erhob sich mit gebeugtem Kopf und kam fast im selben Moment aus der Schenke, als schräg gegenüber der alte Meister Gherardo mit seinem frischgebackenen Gesellen auf die Straße trat. Mit gebeugtem Rücken schlurfte er an der Seite des schlaksigen Gismondo die Via Sant’Anna hinauf in Richtung Stadtmitte.
    Jetzt hieß es schnell sein. Gleich würde Bartolomea die Ladentür von innen verriegeln, die Öllampe über der Verkaufstheke abhängen und mit ihr nach hinten in die Werkstatt verschwinden. Mit einem schnellen Blick nach rechts und links vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war, dem er hätte auffallen können. Dann schritt er auf die Ladentür zu, senkte den Kopf noch weiter und riss sich mit einer schnellen Bewegung den falschen Bart vom Gesicht. Auch die

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