Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
fängt es schon wieder an zu regnen.
Sarahs Geschichte - Dritter Teil
KAPITEL 35
Machen wir eine Pause für ein paar Wahrheiten.
Mir kommt der Gedanke, dass es beim Schreiben dieser Geschichte um mehr geht als ein guter Schreiber zu sein. Es geht um Distanz. Solange ich über diese Dinge in der dritten Person schreibe, ist es beinahe so, als würden sie jemand anderem zustoßen, einem f iktiven Charakter oder so. Ist Verdrängung nicht etwas Großartiges?
Wenn man richtig tief gehen will und mit Metaphern um sich werfen, könnte man diese Geschichte mit einem ziemlich üblen Märchen vergleichen. Gretel ohne Hänsel, mit einer Hexe, die viel zu schlau ist. Sie hat mich in den Ofen geschoben und röstet mich langsam. Oder mit Rotkäppchen, doch der Wolf hat mich geschnappt, und anstatt mich in einem Stück herunterzuschlucken, nimmt er sich Zeit, seine Mahlzeit gründlich zu kauen.
Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, das Kinderheim.
Das Kinderheim war wie eine Arena, und wir waren die Gladiatoren.
Im Kinderheim habe ich zu kämpfen gelernt. Ich lernte den Unterschied zwischen einer Warnung und einem Angriff. Ich fand heraus, dass ich keine Angst haben muss, jemand anderen zu verletzen, und dass Größe nicht alles ist, was zählt.
Ich lernte gewalttätig zu sein, auf eine Weise, die ich mir niemals hätte träumen lassen. War das ein Teil seines Plans?
Ich dachte oft darüber nach. Tue es heute noch. Es spielt keine Rolle, nehme ich an. Es bin sowieso nicht ich, stimmt’s?
»Gib mir das Kissen, hab ich gesagt!«
Sarah presste die Lippen zusammen und zwang sich, den Blick nicht von Kirsten abzuwenden.
»Nein.«
Das ältere Mädchen starrte sie ungläubig an.
»Was hast du gesagt?«
Sarah zitterte innerlich. Nur ein klein wenig.
Wehr dich! Du bist kein ängstliches Baby mehr, erinnerst du dich nicht?
Es war leichter gedacht oder gesagt als getan, so viel stand fest. Kirsten war nicht nur drei Jahre älter, sie war ein großes Mädchen. Sie hatte breitere Schultern als die meisten anderen in ihrer Altersgruppe, sie hatte große Hände, und sie war stark. Sie liebte die Gewalt. Sehr sogar.
Egal. Du bist jetzt acht. Wehr dich!
»Nein. Ich lass mich nicht mehr von dir herumkommandieren.«
Ein hässliches Lächeln spielte um Kirstens Lippen.
»Das werden wir ja sehen.«
Sarah wohnte nun seit zwei Jahren im Burbank Group Home. Es war eine Umgebung, die an Der Herr der Fliegen erinnerte, wo der Stärkere recht hatte und das Erziehungsprinzip der Erwachsenen auf Bestrafung beruhte, nicht auf Prävention. Es war eine Atmosphäre, in der Brutalität und Grausamkeit gediehen.
Sarah hatte keine Freundinnen im Heim. Stattdessen hatte sie sich Kirstens Forderungen gefügt, ihr regelmäßig den Nachtisch oder ihr Bettzeug zu überlassen und die tausend anderen kleinen Foltern ertragen, mit denen das ältere Mädchen sie quälte.
Doch vor kurzem hatte Sarah in die Zukunft gesehen, und das hatte ihre Meinung grundlegend geändert. Sie hatte herausgefunden, was in den Schlafsälen der älteren Mädchen passierte. Hier, in diesem Saal, wurde von ihr Unterwerfungverlangt. In dem anderen Saal würden sie Sarahs Körper verlangen.
Diese Vorstellung löste etwas Unnachgiebiges, Zorniges, Halsstarriges in Sarahs Innerem aus.
Sie hatte viel Zeit damit verbracht, Kirsten zu beobachten. Ihr war klar geworden, dass sich das ältere Mädchen einzig auf seine Kraft und seine Körpergröße verließ. An Kirstens Übergriffen war nichts Geschicktes. Sie war immer diejenige, die als Erste zuschlug. Sarah hatte genug Ohrfeigen von ihr bekommen. Ohrfeigen, die ihre Zähne klappern und ihre Wangen brennen ließen wie Feuer. Die Schwellungen blieben manchmal eine Woche.
Diesmal war es nicht anders. Kirsten holte aus und zielte mit der flachen Hand auf Sarahs Wange.
Es war die Art von Angriff, die nur bei Gegnern funktionierte, die zu viel Angst hatten, sich zu wehren. Sarah tat, was jeder tun würde, der keine Angst hatte – sie duckte sich.
Kirstens Hand strich über ihrem Kopf durch die leere Luft. Ein Ausdruck der Fassungslosigkeit erschien auf dem Gesicht des älteren Mädchens.
Jetzt! Bevor sie das Gleichgewicht wiedergefunden hat!
Sarahs Leben war einfach. Aufwachen, duschen, essen, Schule und dann zurück in die Schlaf- oder Gemeinschaftsräume. Dieses Leben verschaffte ihr ausreichend Gelegenheit, über Dinge nachzudenken. Und dieses Nachdenken hatte sie erkennen lassen, dass eine geballte Faust wirkungsvoller
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