Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
Pech, Ms. Watson«, entgegnete Sarah höhnisch.
Karen warf ihr einen Seitenblick zu und machte schmale Augen. »Red nur weiter so, und du kannst warten, bis du schwarz wirst, bevor ich dich noch einmal zu neuen Pflegeeltern bringe.«
Sarah starrte aus dem Seitenfenster. »Mir doch egal.«
»Ach ja? Na schön. Dann bleibst du in einem Erziehungsheim, bis du achtzehn bist.«
»Ist mir ganz egal.«
Sarah starrte unverwandt nach draußen auf die vorübergleitende Landschaft. Karen fühlte sich abgekanzelt. Es machte sie wütend.
Wer glaubt dieses Kind, wer es ist? Begreift sie nicht, was für eine Bürde sie ist?
Verdammte Göre. Sie würde es Sarah heimzahlen, auf der Stelle.
»Du kannst von mir aus im Heim verrotten!«
Sarah antwortete nicht. Karen Watson war ihr wie immer unter die Haut gegangen, doch nur für einen Moment. Dann war die Taubheit zurückgekehrt, und mit ihr hatte sich jenes tausend Pfund schwere Gewicht auf ihren Schultern niedergesenkt.
Sarah wurde in eine Notaufnahme gebracht und untersucht. Sie hatte eine leichte Konkussion (was immer das war), sodass sie nicht schlafen gehen durfte. Ansonsten hatte sie überallblaue Flecken und Schmerzen. Keine schlimmeren Verletzungen. Nicht äußerlich zumindest.
Ned. Desiree. Pumpkin. Mommy. Daddy. Buster.
Deine Liebe bringt den Tod.
Allmählich glaubte sie, dass es tatsächlich stimmte. Jeder, den sie geliebt hatte, war für immer verloren. Tot.
Ein unsicheres Aufflackern.
Mit einer Ausnahme: Cathy. Und noch einer: Theresa. Und vielleicht Doreen, falls sie noch lebte.
Sarah seufzte.
Theresa saß im Gefängnis. Das reichte dem Fremden vermutlich, für den Augenblick. Sie, Sarah, konnte entscheiden, was sie wegen ihrer Pflegeschwester unternehmen würde, wenn Theresa entlassen wurde. Was Cathy Jones anging – sie war Polizistin und konnte selbst auf sich aufpassen, nicht wahr? Nicht wahr?
Sie würde sich später den Kopf darüber zerbrechen. Jetzt gab es erst einmal andere Dinge, auf die sie sich konzentrieren musste.
Sarah kannte die Regeln von ihrem vorhergehenden Aufenthalt im Heim, und sie hatte sie nicht vergessen. Sie hatte nicht vor, wieder ganz unten in der Nahrungskette anzufangen.
Janet war so dünn wie eh und je, führte das Heim wie eh und je und verschloss wie eh und je die Augen vor dem, was in den Sälen vor sich ging. Janet gehörte zur schlimmsten Sorte von Leuten, die es gut meinten: Denen, die nicht imstande waren, das Böse zu erkennen.
Sie nickte Sarah mitfühlend zu.
»Hallo, Sarah.«
»Hi.«
»Ich habe schon gehört, was passiert ist. Hast du starke Schmerzen?«
Die Antwort lautete ja, doch Sarah schüttelte den Kopf. »Es geht schon. Ich würde mich nur gern hinlegen.«
Janet nickte. »Du darfst aber noch nicht schlafen, das weißt du?«
»Ja.«
»Brauchst du Hilfe mit deiner Tasche?«
»Nein, danke.«
Janet führte sie durch die vertrauten Gänge. Nichts hatte sich verändert in dem Jahr, in dem sie weg gewesen war.
Wahrscheinlich hat sich in den letzten zehn Jahren nichts verändert.
»Hier ist es. Nur zwei Türen weiter als dein altes Zimmer.«
»Danke, Janet.«
»Kein Problem.« Die dünne Frau wandte sich zum Gehen.
»Janet? Ist Kirsten noch da?«
Janet blieb stehen und drehte sich zu Sarah um. »Kirsten wurde vor drei Monaten von einem anderen Mädchen getötet. Sie bekamen Streit, und alles geriet außer Kontrolle.«
Sarah starrte Janet an und schluckte.
»Oh«, sagte sie.
Die hagere Frau musterte sie besorgt. »Ist wirklich alles in Ordnung, Sarah?«
Sarah fühlte sich, als hätte sie fünfzig Kilo Eisen auf dem Kopf.
Betäubung. Benommenheit. Willkommen zu Hause.
»Mir geht es gut.«
Sarah packte ihre Sachen aus, legte sich auf ihre Pritsche und wartete. Sie war am späten Nachmittag eingetroffen, und der Schlafsaal würde bis zum frühen Abend mehr oder weniger leer bleiben. Sie wusste, dass die Zeit gekommen war, ihren Zug zu machen.
Ihr Kopf schmerzte noch immer. Wenigstens war die Übelkeit abgeklungen. Sie hasste es, sich zu übergeben.
Niemand kotzt gerne, Dummkopf.
Es beunruhigte Sarah nicht, dass sie so viel mit sich selbstredete. Dieser Gedanke war ihr niemals gekommen. Wenn man so viel allein war wie sie, redete man mit sich selbst, um nicht verrückt zu werden und nicht, weil man verrückt war .
Taubheit und Benommenheit umfingen sie, badeten sie, durchdrangen sie, verbanden sich mit ihren Genen. Sarah spürte, dass sie irgendeine Schmerzschwelle überschritten hatte.
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