Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
Traurigkeit, Kummer – diese Empfindungen mussten unterdrückt werden. Sie waren zu stark, als dass Sarah ihnen gestatten durfte, sich Bahn zu brechen. Sie würden sie bei lebendigem Leib auffressen, wenn sie sie aus ihren käfigen ließ.
Andere Emotionen waren erlaubt. Wut zum Beispiel. Zorn. Raserei. Sarah spürte, wie sie sich in ihr aufstauten. Jemand hatte ein Loch in ihre Seele gebohrt, und dieses Loch füllte sich mit finsteren, wütenden, geifernden Dingen. Eine Bestie stemmte sich gegen die Ränder des Lochs und knurrte und knurrte. Sarah fragte sich, wie lange sie diese Bestie unter Kontrolle halten konnte, und ob sie es überhaupt vermochte.
Mit den jüngsten Ereignissen war eine tektonische Verschiebung in Sarahs praktischem Denken einhergegangen. Ihr neuer Gott hieß Überleben. Alles andere war bloß Illusion.
Ich verändere mich. Genau so, wie der Fremde es gewollt hat.
Wie das?
Ich glaube, heute könnte ich jemanden töten, wenn ich es müsste. Mit sechs Jahren hätte ich das nicht gekonnt.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.
Sie spielte mit einer Haarsträhne und lächelte ein leeres Lächeln.
Ich brach einem Mädchen die Finger und übernahm ihre Pritsche, mehr war nicht nötig. Ich war jetzt der Leithund im Zimmer, die Königin, die alles unter Kontrolle hatte.
Hey, machen Sie nicht so ein Gesicht!
Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Ich habe getan, was ich tun musste.
Abgesehen davon habe ich heute viel mehr mit meinem neunjährigen Ich gemeinsam als mit meinem sechsjährigen. Mein sechsjähriges Ich ist längst begraben und vergessen.
KAPITEL 46
Während ich zurückblicke und dies hier schreibe, wird Cathy zu so etwas wie meinem Spiegel. Eine Möglichkeit, mir anzuschauen, wie ich in den Augen von jemand anderem ausgesehen habe.
Ich frage mich: Hat sie das alles wirklich so gedacht, oder lege ich ihr meine eigenen Worte in den Mund? Vielleicht ein bisschen von beidem? Vielleicht war Cathy Cathy, und vielleicht ist sie auf diesen Seiten zugleich mein jetziges Ich, das zurückblickt auf mein vergangenes Ich.
Meine Güte …
Cathy war bestürzt, als sie sah, wie Sarah sich entwickelte. Doch was gab es sonst Neues?
Es war Sarahs elfter Geburtstag. Cathy war mit einem Geschenk vorbeigekommen: einem Napfkuchen mit einer einzelnen Kerze darauf. Sarah hatte gelächelt, doch Cathy hatte ihr angesehen, dass es nur Höflichkeit gewesen war.
Was Cathy am meisten erschreckte waren Sarahs Augen. Sie waren nicht offen und ausdrucksvoll wie früher. Sie waren voller Mauern, leerer Stellen und Wachsamkeit. Es waren die Augen von Pokerspielern – oder Gefangenen.
Cathy kannte sich aus mit Augen wie diesen. Sie kannte sie von hartgesottenen Straßennutten und Berufsverbrechern. Augen wie diese sagten: »Ich weiß, wie der Hase läuft« oder »Ich beobachte dich« oder »Denk nicht mal dran, dir etwas zu nehmen, das mir gehört«.
Cathy waren weitere Veränderungen in den letzten beiden Jahren aufgefallen. Sie wusste, dass Sarah die Chefin in ihremSchlafsaal war, und sie konnte sich ziemlich gut ausmalen, wie es dazu gekommen war. Die anderen Mädchen fügten sich Sarah. Sie verhielt sich ihnen gegenüber herrisch und herablassend. Es herrschte Gefängnisatmosphäre. Die Regeln von Macht und Gewalt. Sarah schien sie gut gelernt zu haben.
Warum bist du überrascht? In einem Heim wie diesem gilt nun mal das Recht des Stärkeren, sonst gar nichts.
Cathy war entmutigt wegen ihrer Unfähigkeit, Sarah Hoffnung zu geben. Sie war nicht imstande gewesen, jemanden von ihren Kollegen von Sarahs Version der Geschichte und der Existenz des Killers zu überzeugen. Um die Wahrheit zu sagen, wenn Cathy nachts im Bett lag und nicht schlafen konnte, war sie nicht sicher, ob sie selbst hundertprozentig an die Existenz des Killers glaubte. Sie hatte es versucht, und sie hatte versagt. Und wenngleich Sarah erklärt hatte, es sei nicht weiter schlimm – Cathy wusste, dass es nur eine tapfere Lüge gewesen war. Es war schlimm. Es war sehr schlimm.
Cathy hatte getan, was in ihrer Macht stand. Sie hatte Kopien der Mord-Selbstmord-Akte von Sarahs Eltern gemacht, ebenso von den Akten über die Morde an Dennis und Desiree. Sie hatte zahllose Nächte damit verbracht, über diesen Akten zu brüten und nach Hinweisen oder Unstimmigkeiten zu suchen. Sie hatte sogar welche gefunden. Wenigstens in dieser Hinsicht verband sie noch etwas mit Sarah. Wenn sie mit ihr über die Fälle sprach, kam Leben in ihre
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