Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
darüber, welche Wahl man als Individuum hat? Falls ja (und ich bin sicher, du erinnerst dich) wirst du dich auch an das Versprechen erinnern, das ich deiner Mutter gegeben habe – dass ich dich am Leben lasse. Und du wirst wissen, dass ich dieses Versprechen gehalten habe. Behalte das im Hinterkopf, wenn du weiterliest.
Theresa geht es ganz gut. Nicht ›prima‹ oder ›bestens‹ – sie ist ein wenig mitgenommen, um ehrlich zu sein –, doch sie ist gesund. Wir sind inzwischen drei Jahre zusammen.
Sie möchte dich wiedersehen, und ich würde das gerne einrichten. Doch sie wird dich nicht besuchen, solange du in dem Heim bist.
Gib uns Bescheid, sobald du zu einer neuen Pflegefamilie gezogen bist, und wir melden uns bei dir.
Der Brief trug keine Unterschrift.
Er war auf eine Weise geschrieben, dass jemand anders, der ihn las, ihn vielleicht eigenartig, ansonsten aber harmlos finden würde. Sarah hingegen verstand seine Bedeutung, genau wie der Künstler es beabsichtigt hatte.
Theresa lebt. Sie bleibt am Leben, solange ich tue, was der Künstler von mir verlangt. Er will, dass ich zu neuen Pflegeeltern gehe und warte.
Sarah hatte sich in den letzten Jahre gesträubt, zu Pflegeeltern zu gehen, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre: Sie hätte Janet bloß sagen müssen, dass sie bereit sei, und lächeln, wenn ein interessiertes Paar vorbeikam. Sie war hübsch, sie war ein Mädchen, und es gab immer Paare, die sie bei sich aufnehmen wollten in der Hoffnung auf eine spätere Adoption.
Dann aber kam ihr ungewollt ein neuer Gedanke.
Was wird aus den Leuten, die mich bei sich aufnehmen?
Sarah spürte, wie Dunkelheit ihr Gesichtsfeld einengte, wie sich Unruhe in ihrem Magen regte. Sie drehte sich zur Wand, schlang die Arme um den Leib und fing an zu zittern.
Eine Stunde später vernichtete sie den Brief und ging zu Janet.
KAPITEL 54
Ungefähr ein Jahr später besuchte er sie bei den Kingsleys. Das Haus war leer bis auf Sarah. Die Familie war weggefahren, und Sarah hatte sich nicht wohlgefühlt (jedenfalls hatte sie ihren Pflegeeltern das gesagt; in Wirklichkeit war ihr nicht danach, sich mit Leuten anzufreunden, die in nicht allzu langer Zeit tot sein würden).
Michael hatte zu der Zeit bereits damit angefangen, Sarah zu erpressen und sie zu missbrauchen. Zuerst hatte sie Angstgehabt, weil sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren würde. Sie musste bei diesen Pflegeeltern bleiben, um Theresas willen. Sie musste ausharren. Doch was, wenn Michael sie anfasste, und sie verlor die Kontrolle über sich?
Aber so schlimm war es nicht. Sie hasste Michael, doch es machte einen Unterschied, dass er kein Erwachsener war. Sarah wusste nicht den Grund dafür, doch es war so. Außerdem würde der Künstler Michael wahrscheinlich töten. Bei diesem Gedanken musste Sarah grinsen.
Einmal hatte sie gegrinst, nachdem Michael sie zum Sex gezwungen hatte, und er hatte es bemerkt.
»Was ist so lustig?«, fragte er.
Der Gedanke an deinen Tod , dachte Sarah.
»Nichts«, sagte sie.
Sie versuchte nicht über Dean und Laurel nachzudenken, wenn sie es vermeiden konnte. Laurel war nicht gerade eine Bilderbuchmutter und ganz gewiss keine Desiree, doch sie war ganz in Ordnung. Es gab Augenblicke aufrichtiger Fürsorge; es gab Zeiten, da Sarah spürte, dass Laurel aufrichtig an ihrem Wohlergehen interessiert war. Also hielt Sarah sich zurück und blieb für sich allein, so gut es ging.
Sie war in ihrem Zimmer, an ihrem Computer, als er auftauchte. Es war früher Nachmittag. Er hatte wieder die Strumpfhose über dem Gesicht. Er lächelte. Er lächelte immer.
»Hallo, Little Pain.«
Sie sagte nichts. Sie wartete nur. Das war alles, was sie tat, dieser Tage. Sie redete wenig, fühlte noch weniger und wartete.
Er kam zu ihr und setzte sich aufs Bett.
»Du hast meine Nachricht erhalten und meinen Worten geglaubt«, sagte er. »Das ist gut, Sarah. Das ist sehr gut, weil ich die Wahrheit geschrieben habe. Theresa lebt, und du hast dafür gesorgt, dass es so bleibt.«
Sie fand ihre Stimme wieder. »Haben Sie ihr wehgetan?«
»Ja. Und wenn wir hier fertig sind, gehe ich nach Hause undtue ihr noch mehr weh. Aber solange du tust, was ich von dir verlange, werde ich sie nicht umbringen.«
Sarah spürte, wie etwas Neues durch die Trümmer in ihrem Innern emporkroch. Es dauerte einen Moment, bis sie es erkannte.
Hass.
»Ich hasse Sie«, sagt sie zu dem Künstler. Ihre Stimme klang nicht wütend oder erregt, sondern ganz normal. Wie die
Weitere Kostenlose Bücher