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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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und
wahrscheinlich war das Erste, was er sah, wenn er die Augen
aufschlug, ein halbes Dutzend Speerspitzen, die auf sein
Gesicht gerichtet waren. Stöhnend wälzte er sich auf den
Rücken und hob die Lider.
Er war allein. Das Ende des Glockenseiles baumelte einen
halben Meter über seinem Gesicht, und der Boden, auf dem er
lag, war nass und glitschig von seinem eigenen Blut. Weit
entfernt und verzerrt vom dumpfen Hämmern seines eigenen
Herzens, das noch immer überlaut in seinen Ohren dröhnte,
konnte er die Stimmen von Thobias und den anderen hören.
Niemand hatte etwas von seinem Eindringen bemerkt, so
unglaublich es ihm auch selbst erschien.
Andrej blieb eine geraume Weile reglos auf dem Rücken
liegen und wartete darauf, dass sich sein Körper erholte und die
Verletzungen heilten, die er sich bei dem Sturz aus sieben oder
acht Metern Höhe zugezogen hatte. Es dauerte wahrscheinlich
nur Minuten, aber für ihn schienen Ewigkeiten zu vergehen.
Irgendwann spürte er, dass die Regeneration abgeschlossen
war. Aber er war schwach, unglaublich schwach. Schon die
kleinste Bewegung kostete ihn fast mehr Kraft, als er hatte.
»… flehe Euch noch einmal an, Hochwürden«, hörte er
Thobias’ Stimme.
Immerhin konnte er jetzt die Worte verstehen, wenn auch
nicht sehr klar. »Im Namen Gottes, Ihr könnt das nicht wirklich
wollen! Es sind mehr als sechzig Menschen, noch immer!«
Andrej stand auf. Er war so schwach, dass er taumelte. Um
ein Haar hätte er das Glockenseil ergriffen, um sich daran
festzuhalten.
»Bruder Thobias, ich kann Eure Gefühle verstehen«,
antwortete eine andere, Andrej unbekannte Stimme. »Auch
wenn ich sie nicht gutheißen kann, so mag doch zu Euren
Gunsten sprechen, dass diese Menschen hier Eure Brüder und
Schwestern sind. Ihr seid mit ihnen aufgewachsen und haltet sie
für Eure Freunde, und früher einmal waren sie das sicher auch.«
Andrej wartete mit geschlossenen Augen, bis das
Schwindelgefühl hinter seiner Stirn verebbte, dann blickte er
sich um. Er befand sich in einer kleinen, vollkommen leeren
Kammer, die nur eine einzige Tür hatte. Sie war grob aus kaum
bearbeiteten Brettern zusammengenagelt, durch deren Ritzen
nicht nur die Stimmen drangen, die er hörte, sondern auch
flackerndes gelbes Licht.
Andrej spähte durch eine der fingerbreiten Ritzen.
»Das ist nicht der Grund, Exzellenz«, hörte er Thobias sagen.
Er lief aufgeregt in dem kleinen, bescheiden eingerichteten
Raum auf und ab, der auf der anderen Seite der Tür lag, und er
war nicht allein. Der Mann, den er mit Exzellenz angesprochen
hatte, stand aufgerichtet neben einer anderen Tür, die
vermutlich ins eigentliche Kirchenschiff hineinführte, und trug
ein schlichtes schwarzes Gewand. Er war allerhöchstens
dreißig, schätzte Andrej, und hatte ein offenes Gesicht, aber
mitleidlose harte Augen. Sein Haar war so schwarz wie sein
Gewand. Ein goldenes Kruzifix hing an einer Kette um seinen
Hals. Es musste der Inquisitor sein, von dem Thobias
gesprochen hatte.
Sein bloßer Anblick versetzte Andrej in Zorn. Da bemerkte er
eine weitere Person im Raum: Vater Benedikt. Er stand mit dem
Rücken zu Andrej, aber er erkannte die gebeugte Gestalt und
das schüttere graue Haar.
»Doch, Thobias, das ist der Grund«, antwortete der Inquisitor
ruhig. Seine Hand tastete nach dem Kruzifix auf seiner Brust
und schmiegte sich darum.
»Ich will offen sein, Bruder Thobias. Ihr habt es nur
Benedikts Fürsprache zu verdanken, dass Ihr nicht ebenfalls in
Ketten auf der anderen Seite der Anklagebank steht. Vielen von
uns ist das, was Ihr in den letzten Jahren dort oben in Eurem
Kloster getan habt, ein Dorn im Auge.«
»Und Euch ganz besonders, nicht wahr?« Thobias’ Stimme
zitterte vor Aufregung. Er war unruhig, aber Andrej lauschte
vergebens auf einen Unterton von Angst.
Vater Benedikt fuhr erschrocken zusammen und sog hörbar
die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Was ich denke, steht nicht zur Debatte«, antwortete der
Inquisitor ungerührt.
»Was zählt ist, was ich sehe. Und ich sehe einen Ort, dessen
Menschen sich offensichtlich von Gott abgewandt haben, und in
dem schwarze Magie und Teufelswerk die Stelle von
Gottesfurcht und Demut einnehmen.«
»Nicht alle, Exzellenz«, sagte Thobias verzweifelt. »Ihr mögt
Recht haben. Es sind … schlimme Dinge geschehen, das will ich
nicht bestreiten. Aber es war nicht die Schuld der guten Leute
hier. Es ging von den Fremden aus. Alles begann, nachdem
dieser Andrej und der

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