Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
knarrte. Erschrocken biss er sich auf die Unterlippe, als das ächzende Quietschen der Stufe durch das Haus schallte. In der Küche schabte ein Stuhl über den Boden, seine Eltern hatten ihn gehört. Eilig drehte er sich um und ging mit lauten Schritten die Treppe wieder hinab.
Seine Mutter trat in die Küchentür und sah ihm entgegen.
Simon versuchte ein Lächeln. »Ich wollte nur Gute Nacht sagen.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Inzwischen war er so groß wie sie und musste sich nicht mehr strecken. Sein Vater kam hinzu, er strich Simon über das Haar und lächelte verkniffen. »Gute Nacht, Großer. Träum was Schönes.«
Simon nickte, dann stieg er die Treppe wieder hinauf und ging in sein Zimmer. Leise schloss er die Tür. Er hatte ein schlechtes Gewissen, das Gespräch seiner Eltern belauscht zu haben. Doch die Neugier, die in ihm brannte, war stärker. Was war es, das er nicht wissen durfte? Was hatte sein Vater ihm sagen wollen? Hatte es mit dem Ring zu tun, den er trug, seit sie hier waren?
Simon trat ans Fenster. Der Mond war aufgegangen, voll und groß hing er über den Wipfeln der Bäume. Der Garten badete in seinem kalten blauen Licht. Nachdenklich betrachtete Simon die alte Scheune. Er wusste, wenn sich seine Mutter etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann kam sein Vater nicht dagegen an. Sein Vater könnte tausendmal mit ihm reden wollen, solange seine Mutter anderer Meinung war, würde es nicht geschehen. Wer weiß, ob sie den Vater nach den Ferien nicht erneut überreden würde, ihm nichts zu verraten.
Simon merkte, wie er ärgerlich wurde. Seine Mutter behandelte ihn, als ob er noch ein Kind wäre! Aber er war kein Kind mehr, egal, was sie von ihm dachte, und er wollte auch keines mehr sein! Er würde selber versuchen müssen, hinter das Geheimnis zu kommen. Mit diesem Vorsatz kletterte er in sein Bett. Bald glitt er in einen unruhigen Schlaf.
Simon sah nicht den Schatten, der aus der alten Scheune huschte und lautlos über den Rasen lief, er sah nicht, wie der Schatten vor dem Haus stehen blieb und hinauf zu seinem Zimmer blickte.
Zwei Augen leuchteten in der Dunkelheit.
9
Im Haus war es still, als Simon am nächsten Morgen erwachte. Tim lag in seinem Bett und schnarchte leise. Eines seiner Beine hing über die Bettkante. Er schnaufte im Schlaf, als Simon aufstand, um sich anzuziehen.
Wenig später stand Simon im Treppenhaus und überlegte, was er tun sollte. Frühstück gab es noch nicht, und obwohl es nach frischem Brot roch, war niemand außer ihm wach. Kurz überlegte er, sich selber etwas zuzubereiten. Doch er hatte keine Lust dazu und außerdem war er noch nicht wirklich hungrig.
Ein Sonnenstrahl fiel durch das runde Dachfenster. Simon musste blinzeln, als er hinaufsah. Dort oben war das Atelier des Großvaters, hinter der Tür am Ende der Treppe. Simon hatte es erst einmal betreten, im letzten Sommer, in dem sein Opa viel Zeit mit ihm verbracht hatte. Das Atelier war ihm groß vorgekommen und geheimnisvoll, mit vielen Bildern und Zeichnungen, an denen der Großvater in jeder freien Minute arbeitete. Simon kannte sonst niemanden, der malte, und der Geruch von Farbe und Leinwand hatte sich in seinem Gedächtnis festgesetzt.
Kurz entschlossen ging er die Treppe hinauf. Wenn der Raum unter dem Dach sowieso zu seinem Zimmer werdenwürde, dann konnte er ihn auch jetzt schon ansehen, dachte er sich. Die Tür war unverschlossen. Simon zögerte, doch dann drückte er die Klinke hinab und betrat das Atelier.
Das Zimmer des Großvaters reichte über die gesamte Fläche des Dachbodens. Ein großer Arbeitstisch stand in der Mitte des Raumes, an den Wänden waren Regale und Materialschränke aufgebaut. Überall standen Bilder herum, auf Staffeleien und Stühlen, in den Regalen und an die Schränke gelehnt. Alles war mit Farbe bekleckst. An der Stirnseite des Ateliers bedeckte ein flauschiger Teppich die Holzdielen, darauf lagen mehrere gemütlich aussehende Sitzkissen. Ein Stück weiter stand ein dicker Ohrensessel. Das Beste jedoch war das Fenster: Es ging zur Küste hinaus und bot einen beeindruckenden Blick über die Bucht. Sogar die Hochhaustürme der nahen Stadt konnte man von hier aus sehen.
Simon schloss die Augen und sog die Luft durch die Nase. Es roch fast so wie in seiner Erinnerung, und für einen Augenblick glaubte er, seinen Opa hinter der großen Staffelei hervortreten zu sehen. Doch da war niemand, der Platz hinter der Staffelei war leer. Sein Großvater war
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