Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
fort.
Eine Reihe von Gemälden, die an einem Schrank lehnten, weckte Simons Aufmerksamkeit. Es waren Bilder eines üppig bewachsenen Tals, wunderschön, aber zugleich auch unheimlich. Auf den ersten Blick wirkte die Landschaft verlockend und friedlich, doch Simon hatte das Gefühl, in der Idylle lauerte Gefahr. Ihm lief es kalt den Rücken herunter, als er die Bilder betrachtete.
Neugierig sah er sich weiter um. In einem Regal entdeckteer mehrere Skizzen von Menschen, mit Kohle gezeichnet, es waren faszinierende Porträts ernster Gesichter. Daneben lag ein Stapel bunter Aquarelle, sie zeigten Fantasiewesen, die meisten Tiere jedenfalls hatte er noch nie gesehen. Simon fand Schneebilder und karge Steinwüsten, eine Reihe unheimlicher Moorlandschaften sowie die Bilder eines Dorfes, in dem die Bewohner ein Fest feierten. Staunend betrachtete er die Welten, die sich vor ihm öffneten.
Ihm war nicht bewusst gewesen, dass sein Opa so gut malen konnte. Doch da war noch mehr: Die Bilder schienen zu leben. Simon hatte das Gefühl, dass sie mit ihm Kontakt aufnahmen, mit ihm redeten. Nur was die Bilder ihm zu sagen hatten, das verstand er nicht.
Ob das der Grund war, warum er in das Atelier einziehen sollte? Waren die Gemälde seines Großvaters eine Nachricht an ihn?
Schließlich entdeckte er auf einer Staffelei ein düsteres Gemälde, ein Tuch hing halb über der Leinwand. Das Bild zeigte eine Straßenschlucht zwischen riesigen Hochhäusern, kalt funkelnd ragten die Wolkenkratzer in den Nachthimmel. Einer der Türme überragte alle anderen Häuser, er stand im Zentrum der Straßenschluchten wie eine Spinne in ihrem Netz. Simon erkannte das Haus sofort: Es war der Tower, das Wahrzeichen der nahen Stadt. Simon warf einen Blick aus dem Fenster: Der glitzernde Riese war größer als alle anderen Gebäude, selbst von hier aus konnte man ihn sehen. Auf dem Bild wirkte er feindlich und abweisend.
Simon betrachtete das Gemälde genauer. Erst jetzt sah erdie Augen, die sich in der Stadt versteckten, hinter Ritzen und staubigen Fensterscheiben, in dunklen Ecken und achtlos am Straßenrand liegenden Pappkartons. Behutsam strich er mit seinem Finger über das Bild. Gerne hätte er seinen Großvater gefragt, was das alles bedeutete.
Da stutzte er. Die Ölfarbe war noch weich! Gespannt suchte er das Bild nach einem Hinweis ab, wann es entstanden war, sein Opa unterschrieb seine Gemälde, bei manchen fügte er ein Datum hinzu. Und tatsächlich entdeckte Simon eine Signatur und daneben ein paar Ziffern. Er rechnete nach: Es war der Tag ihrer Ankunft vor zwei Wochen.
Sie waren an jenem Tag nach einer langen Fahrt spät hier eingetroffen, er hatte im Auto geschlafen und war müde von seinem Sitz geklettert. Sein Großvater hatte sie begrüßt, er hatte sich gefreut, sie zu sehen. Oder war er nur erleichtert gewesen? Simon erinnerte sich nicht genau, er war damals zu schläfrig gewesen. Seine Mutter hatte ihm sein Zimmer gezeigt, und er war sofort in das Bett geklettert, um weiterzuschlafen. In der Nacht war er wach geworden. Im Atelier hatte noch Licht gebrannt und er hatte die Stimmen seines Vaters und seines Großvaters gehört. Seit jener Nacht war sein Opa fort, zumindest hatte er ihn seither nicht mehr gesehen.
Die Tür knarrte. Erschrocken fuhr Simon herum: Seine Mutter stand im Eingang des Ateliers, mit gerunzelter Stirn. »Was machst du hier?«
»Ich wollte mir nur mein neues Zimmer ansehen«, stotterte er. Möglichst unauffällig ließ er das Tuch wieder über das Ölgemälde gleiten.
Das Gesicht seiner Mutter entspannte sich. Sie ging zu ihm und legte ihren Arm um seine Schultern. »Wir räumen nachher die Bilder zur Seite. Dann wirst du sehen, wie schön es hier ist.«
Simon hatte ein schlechtes Gewissen, nicht nur wegen des verbotenen Besuchs in der Scheune, den er ihr verheimlichte. Er hatte ihr sonst immer alles gesagt, was er dachte und fühlte, doch diesmal scheute er sich, mit ihr zu reden.
Immerhin, sagte er sich, verheimlicht auch sie etwas.
»Wo ist eigentlich Opa?« Simon hoffte, dass sie nicht merkte, wie angespannt er war.
Seine Mutter zögerte mit ihrer Antwort. »Der ist auf einer Geschäftsreise. Bald ist er wieder da.«
Simon schwieg. Das war eine Lüge, so viel war klar. Er hatte alles Recht der Welt, ihr nichts zu verraten. Sie würde ihm sowieso nicht die Wahrheit sagen.
Sie wollten gerade den Raum verlassen, als er etwas entdeckte. An einem Balken neben der Tür hingen mehrere kleine Porträts,
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