Der Torwächter Bd. 2 - Die verlorene Stadt
Schlafkammer, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Anders als in den übrigen Räumen des Kellergewölbes war es hier nicht dunkel, obwohl keine Kerze brannte und auch kein Ofenfeuer loderte. Erst als Simon die Öffnung in der Decke entdeckte, begriff er, dass das Licht von außen kam: An der höchsten Stelle des Gewölbebogens gab es eine Luke, sie stand offen, und der Mond, der über der Hügelkette aufgegangen war, leuchtete durch den eingestürzten Dachstuhl des Hauses bis zu ihm herab. Simon trat unter die Öffnung und sah hinauf. Die Vorstellung, in einem Keller zu stehen und in den Himmel blicken zu können, war irgendwie eigenartig.
»Hallo! Ist da jemand?«
Niemand antwortete.
Simon zögerte. Was sollte er tun? Er hatte Iras Zimmer gefunden – die Zwille, mit der sie ihn bei ihrer ersten Begegnung beschossen hatte, lag auf dem Kopfkissen des Bettes. Es war seltsam, hier zu sein, ohne dass auch Ira da war, Simon hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Doch er wusste nicht, wo er sonst hingehen sollte. Also setzte er sich auf das Bett, um auf sie zu warten.
Iras Zimmer sah ganz anders aus als die Zimmer der Mädchen, die er sonst kannte. Es war karg eingerichtet, mit schlichten, grob gezimmerten Möbeln. Simon musste an eine Mönchszelle in einem Kloster denken. Es gab ein Bett und darüber ein Regal, in der Ecke standen ein winziger Tisch mit einem Stuhl und daneben eine schulterhohe Kommode, in der ihre gesamte Wäsche sein musste, denn es gab keinen anderen Schrank. An einem Haken an der Tür hingen eine Jacke und ein einziges Kleid. Die weißen Wände des Raumes waren schmucklos, bis auf die Zeichnung einer jagenden Wildkatze, die direkt in den Kalkputz der Mauer gekratzt und mit Farbe ausgemalt worden war.
Simon stand auf und bewunderte die elegante Form des Raubtiers. Es erinnerte ihn ein wenig an Ashakida. Dann ließ er seinen Blick über das Regalbrett wandern. Einige vergilbt aussehende Bücher standen dort. Simon entzifferte die Titel, er kannte keinen einzigen davon. Am Ende der Reihe entdeckte er das Skizzenbuch seines Großvaters, wie versprochen hatte Ira es sicher für ihn verwahrt. Erleichtert zog er es hervor und legte es vor sich auf das Regal. Dann sah er sich die anderen Gegenstände an, die Ira hier aufbewahrte. Direkt neben den Büchern standen eine Blechdose, ein kleiner, wie ein altes Fernsehgerät aussehender Guckkasten aus Plastik und eine Schale mit außergewöhnlich gefärbten Steinen. Ganz außen, am Rand des Regals, stand eine kleine Kiste aus Holz, die Ira sorgfältig mit einem Ledergurt zugebunden hatte.
Simon wollte gerade die Holzkiste in die Hand nehmen, als ihn eine Stimme zurückzucken ließ.
»Finger weg!«
Überrascht blickte er auf. Ira hockte oben am Rand der Luke und schaute zu ihm herab. Sie war erstaunt, ihn hier zu sehen. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Behände schob sie ihre Beine durch die Öffnung und kletterte an der Wand hinab. Erst jetzt bemerkte Simon die faustgroßen Löcher, die in das Mauerwerk gestemmt worden waren und die sie wie eine Leiter nutzte. Ira sprang das letzte Stück hinab und drehte sich zu ihm um. Nun standen sie dicht voreinander, das Zimmer war klein, Simon konnte nicht zurückweichen.
Sie musterte ihn erfreut. Fast schien es, als wollte sie ihn umarmen, doch dann boxte sie ihm nur grinsend gegen die Brust. »Ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dich noch mal wiederzusehen.«
Simon gab sich lässig. »Ich bin abgehauen.«
»Aus Victors Wagen? Wirklich?« Sie schien beeindruckt zu sein.
Simon schlug die Augen nieder. Nun war er doch etwas verlegen.
Ira schnupperte. »Du riechst nach meiner Oma.«
»Ich habe ihre Seife benutzt.«
Simons Antwort schien Ira nicht zu verwundern. Ohne den Blick von ihm zu lassen, kletterte sie auf das Bett und setzte sich. »Okay. Dann sag mir, was du hier willst.«
Er verstand nicht, was sie meinte.
»Na, du bist doch nicht zurückgekommen, weil meine Oma so tolle Kräuterseife siedet.«
Simon wollte gerade von Ashakida erzählen, als ihm klar wurde, dass Ira recht hatte. Die Leopardin war nicht der einzige Grund, warum er hier vor ihr stand.
Er erwiderte ihren Blick. »Ich brauche deine Hilfe. Ich muss in die Stadt.«
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15
Ira unterbrach ihn kein einziges Mal, während er ihr erzählte, was er vorhatte. Als er fertig war, schüttelte sie verständnislos den Kopf. »Du spinnst.«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ja, klar!« Ira fand die Frage überflüssig. »Du
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