Der Torwächter Bd. 2 - Die verlorene Stadt
nicht danach. Irgendwie war er befangen in ihrer Gegenwart.
Er musste an seinen Bruder denken.
»Hast du einen Freund?« Kaum hatte Simon die Frage ausgesprochen, merkte er schon, wie er rot wurde.
Entgeistert sah Maria ihn an. Sie war bestimmt drei Jahre älter als er – Mädchen in ihrem Alter sprachen eigentlich nicht mit jüngeren Jungs. Man fragte sie auch nicht nach ihrem Freund, schon gar nicht in so einer Situation.
»Warum willst du das denn wissen?«
Simons Kopf glühte. »Ich meine …«, stotterte er und suchte nach Worten, »ich frag nicht wegen mir, sondern wegen meinem Bruder.« Er verstummte, ärgerlich auf sich selbst. Die Sache wurde immer schlimmer.
Ashakida hinten im Karren kicherte leise. Simon war erleichtert – sie war bei Bewusstsein!
»Und wer ist dein Bruder?«
»Wie bitte?« Simon verstand Marias Frage nicht sofort.
Sie antwortete geduldig. »Na, du hast doch gerade von deinem Bruder gesprochen.«
Simon nickte. Was sollte er ihr sagen? »Der ist nicht hier. Er heißt Tim.« Kurz wurde er traurig, als er an ihn dachte. »Du würdest ihn sicher mögen.« Simon verstummte und warf Maria einen scheuen Blick zu. Dann schwieg er, und auch Maria sagte eine ganze Weile kein Wort, während sie den Karren den Hügel hinaufzogen.
Es wurde dunkel, draußen über dem Meer ging die Sonne unter. Schatten krochen zwischen die Ruinen. Die meisten Häuser und Straßen erkannte Simon wieder, sie ähnelten denen in seinem Dorf. Doch manches hier hatte sich anders weiterentwickelt, nachdem die Welten aufgesplittert und voneinander getrennt worden waren. So hatte es im Dorf seines Großvaters gleich hinter der Kirche einen kleinen Park gegeben, in dem trockene Palmen ihre Blätter abwarfen. In dieser Welt war die Fläche bebaut, ein hässliches Gebäude versperrte die Abkürzung, die Simon gehen wollte.
Endlich erreichten sie die Gasse, in der Ira mit ihrer Großmutter lebte. Maria stoppte den Wagen auf dem kleinen Platz vor dem Haus. So wie in seiner Welt gab es auch hier einen ausgetrockneten Brunnen, doch der steinernen Figur auf dem Podest fehlte der Kopf, auch gab es keine Inschrift, jemand hatte sie weggemeißelt. Direkt gegenüber führte eine Treppe hinauf zu einer verwitterten Tür in der Fassade der Ruine. Der Eingang zum Keller, erinnerte sich Simon, war gleich dahinter, am Ende der Haupthalle.
Maria sah hinauf zum Portal. »Da ist ein Türklopfer. Benutze ihn, sie hören ihn auch unten.«
Simon nickte stumm. Behutsam nahm er Ashakida auf den Arm. Er sah Maria an. Er war noch immer ein wenig verlegen. »Danke.«
Sie strich sich ihre Haare aus der Stirn und legte den Kopf schief, als sie seinen Blick erwiderte. Sie lächelte. »Du bist schon seltsam. Aber irgendwie mag ich dich.« Sie nahm den Griff des Karrens in die Hand, winkte ihm ein letztes Mal, dann ging sie davon. Rumpelnd rollte der Handwagen hinter ihr her.
Simon stieg die Treppe hinauf. Durch die Fensterhöhlen konnte er in das Haus blicken. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, dass hier jemand lebte. Vorsichtig legte er Ashakida auf die oberste Stufe, dann hob er den Türklopfer und ließ ihn auf das Holz fallen. Ein lautes Wummern dröhnte durch die Dämmerung. Eine Weile blieb es still. Endlich hörte er ein Knarren, so als ob jemand eine Klappe geöffnet hatte. Schritte ertönten, sie schlurften über den Steinboden. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, einer der Türflügel öffnete sich. Iras Oma stand in der Tür, Simon erkannte sie sofort. Fragend sah sie ihn an. Dann wandelte sich ihr Blick. Sie erschrak und stolperte einen Schritt zurück. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Ihre Hand tastete nach Halt.
Kurz fürchtete Simon, dass sie die Tür zuschlagen könnte. Er ging auf sie zu. »Ich brauche Ihre Hilfe!«
Sie antwortete nicht, starrte ihn entsetzt an. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, als sie sprach. »Du bist wieder da …, Salvatore.«
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14
Simon erstarrte, als er diesen Namen hörte: Sein Großvater hatte ihn so genannt. Woher wusste die Alte in dieser Welt diesen Namen? Doch er hatte keine Zeit nachzufragen, Ashakida war wichtiger, ihr musste geholfen werden.
Behutsam hob er die Leopardin auf und trug sie über die Schwelle. »Wo kann ich sie hinbringen?«
Zu seiner Verblüffung stellte ihm die Alte keine Fragen. Wortlos eilte sie durch die ehemalige Eingangshalle zum Eingang in das Kellergewölbe. Die Treppenöffnung war mit einer Abdeckung aus Brettern geschützt, sie war
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