Der Tote am Lido
können.«
»Geben Sie mir eine Minute«, sagte der Anwalt.
Der Richter bekam einen eckigen Kiefer. Er wusste nicht, ob er den impertinenten Anwalt zusammenstauchen oder gar offiziell zur Ordnung rufen sollte. Dann ließ er sich gegen die Lehne fallen und sagte: »Ihrem Antrag wird stattgegeben.«
Schlagartig war Ruhe im Saal. Der Richter gab einem Justizbeamten ein Zeichen. Dieser verließ den Verhandlungssaal. Amanda ließ sich in den Stuhl sinken und wünschte sich weit weg. Drei Minuten später kam der Beamte zurück, neben sich einen schmächtigen Mann mit schütterem Haar und gebeugter Haltung. Arturo Boccafogli. Er hatte dunkle Augenringe, zitterte und wagte kaum, den Blick zu heben. Nachdem er vereidigt worden war, trat er in den Zeugenstand, wo er sich mit beiden Händen festklammerte. Amanda war fassungslos. Wo kam er jetzt her? Wer hatte ihn gefunden?
Der Anwalt stellte ihm die ersten Fragen. Boccafogli beschrieb, wo seine Wohnung und seine Fenster lagen. »Und haben Sie in der besagten Nacht etwas beobachten können, was diesem Gericht bei der Wahrheitsfindung helfen kann?«
Boccafogli nickte.
»Was?«
»Der Junge lag auf dem Boden und winselte.«
»Konnten Sie Worte verstehen?«
»Helft mir, oder so ähnlich. Ich kann nicht mehr.«
»Wie ist es möglich, dass Sie, entschuldigen Sie, aber Sie haben bereits ein gewisses Alter, über die Straße hinweg einzelne Worte verstehen konnten?«
»Mein Fenster war offen. Es war eine der ersten warmen Nächte. Und mein Gehör hat im Alter nicht gelitten.«
»Was geschah danach?«
»Jemand kauerte auf dem Jungen.«
»Und was tat dieser Jemand?«
»Ich sah nur einen Schlagstock, der immer wieder niederging.«
Susanna Clerici fing zu schluchzen an. Aus dem Block der Fußballfans kam bedrohliches Knurren. Der Richter mahnte zur Ruhe.
»Konnten Sie den Beamten erkennen?«
Arturo Boccafogli verneinte.
»Sie wissen also nicht, ob er hier anwesend ist?«
»Nein.«
»Warum sagen Sie erst heute aus.«
»Man hat mich bedroht.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht.«
»Können Sie die Art der Bedrohung schildern?«
Boccafogli erzählte von nächtlichen Anrufen und vom Besuch der drei vermummten Männer mit ihren Baseballschlägern.
Der Anwalt bedankte sich und bat den Richter darum, eine Tonaufzeichnung vorspielen zu dürfen. DerRichter war sichtlich verwirrt. Die Aussage Boccafoglis hatte auch ihn beeindruckt. Ehe er richtig über die Prozessordnung nachdenken konnte, hatte er bereits genickt.
Der Anwalt gab dem Techniker eine CD, und alle warteten, während der Verstärker leise brummte, auf den Ton. Man hörte zuerst das Krachen einer gestörten Funkverbindung, dann eine blecherne Stimme: »Ja, hier Hecht 81.« – »Probleme? Wieso meldet ihr euch nicht?« – »Nein, keine Probleme.« – »Was ist mit der besagten Person?« – »Im Moment nicht vernehmungsfähig.« – »Wieso?« – »Pulla hat ihn ein bisschen hart rangenommen.«
»Dieser Funkspruch wurde in der besagten Nacht um 3.42 Uhr abgegeben.«
»Wie sind Sie in dessen Besitz gelangt?«, fragte der Richter.
»Über eine anonyme Quelle.«
Der Richter kaute auf seiner Wange, sah auf die Uhr und beriet sich kurz mit den beiden beisitzenden Richtern. Dann rief er Antonino Pulla, den Vicebrigadiere aus Sizilien, in den Zeugenstand.
»Herr Pulla. Wie erklären Sie sich diesen Funkspruch?«
Der junge Beamte war bleich, seine Oberlippe zitterte. Er sah immer wieder zu seinen Kollegen, die ins Nichts starrten. Er stammelte, dass er von seinem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch machen wolle. Anschließend rief der Richter Stefano Massari in den Zeugenstand.
»Herr Massari, erkennen Sie die Stimme in dem Funkspruch?«
Der Polizist lächelte dümmlich. Auch wenn sie leicht verzerrt gewesen war, hatte jeder im Saal die Stimme als die seine erkannt.
Dann rief der Richter auch noch Sandro Catozzo auf. »Können Sie sich erklären, wie es zu diesem Funkspruch kam?« Der Beamte schüttelte den Kopf.
Daraufhin vertagte der Richter die Sitzung und ordnete eine vorläufige Festnahme der drei Polizisten an. Wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung.
Ein Jubelsturm brach los.
Arturo Boccafogli stand alleine in dem leeren Raum zwischen Richterpult und Zeugenstand und dachte an seinen Hund, der im Hof des Gerichtsgebäudes angebunden war und winselte.
56
Lunau trat auf die Straße, sah sich um, sah die roten Ziegel, die ockerfarbenen Fassaden, die warmen Erdtöne, die im Abendlicht ihre
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