Der Tote am Lido
ein. Der Bug der Yacht hob sich aus dem Wasser und schnitt sich durch die See.
Tarantella hatte die Hand ausgestreckt, aus seinem Mund lief Blut, aber er versuchte zu sprechen. »Was hätten Sie an meiner Stelle … getan? Hätten … Sie sich töten lassen?«
Lunau schwieg und dachte nach. Er hatte keine Antwort. Er dachte an die beiden Brüder, an die Bushaltestelle. Vielleicht hatte er ihretwegen auf die Musikerkarriere verzichtet. Um solche Kerle niederzustrecken. Oder um noch einmal dieses Gefühl zu genießen, dasihn in den Bus begleitet hatte. Vielleicht ging es ihm nicht um Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern nur um dieses primitive Gefühl, der Stärkere zu sein. Vielleicht hatte Silvia recht. Es waren Hahnenkämpfe. Und er wollte gewinnen.
»Wie ist Meseret dahinter gekommen, dass Sie mit De Santis gemeinsame Sache machen?«
Tarantella hustete und röchelte. »Dummer Zufall. Ein verlassener Rastplatz an der Romea. Dort trafen wir uns.« Tarantellas Atem ging schwer, aber er sprach in kurzen Schüben weiter. »Kein Mensch fährt auf der Romea Fahrrad, noch dazu ohne Licht. Nur dieser Meseret.«
Lunau sah die Bilder vor sich. Meseret, auf den dreißig Kilometern zwischen Lido di Spina und Goro, inmitten donnernder Lastzüge und den Blechlawinen der Urlauber. War er wirklich die ganze Strecke gefahren, nach einem langen Arbeitstag, währenddessen er in der Gluthitze gefälschte Handtaschen verkauft hatte? Um am Abend die Wohnung zu streichen? Um in der Nacht Muscheln zu fischen? Hatte er De Santis’ Wagen auf einem Parkplatz entdeckt und aus Neugier angehalten? Oder hatte er an einem Baum gestanden und sich erleichtert, als die Wagen auf den Parkplatz rollten? Noch ein Zufall, der ein Menschenleben gekostet hatte.
Lunau dachte an das Kindergesicht, das er im Fotoalbum gesehen hatte, er dachte an den Stolz in den Augen der Mutter, die den kleinen Meseret an der Hand hielt. Er war klüger als seine Altersgenossen, »er waretwas Besonderes«, hatte Oba gesagt. Er gehörte zu den Privilegierten unter den Immigranten, auch weil er reguläre Papiere hatte, weil sein Gesicht dem Passbild in der Aufenthaltsgenehmigung entsprach. Aber von diesem Gesicht war nichts übriggeblieben. Er hatte ein ihm fremdes System durchschaut, aber er hatte es nicht bis ins Letzte offengelegt, und das war ihm zum Verhängnis geworden. Ähnlich wie Silvias Mann, Vito Di Natale, der von Sizilien in den Norden gekommen war in der Illusion, er könne hier seine Träume verwirklichen. Gute Ideen erstickten im Norden nicht im Filz, hatte er gemeint.
Tarantella schloss die Augen. Einige Minuten später setzte sein Pulsschlag aus.
55
Der Saal war noch voller als bei der letzten Verhandlung. Das Publikum war wieder in zwei Blöcke geteilt: auf der einen Seite Polizisten und Carabinieri, auf der anderen die Angehörigen und Freunde Marco Clericis. Seit zwei Stunden spielte sich ein scheinbar sinnloses Spektakel ab, das allein Amanda und Paolo Palombo, der Anwalt der Familie Clerici, durchschauten.
Wieder waren detailreiche medizinische Gutachten vorgetragen worden, die zu den immer gleichen Schlüssen kamen. Die von den Polizisten bestellten Gutachter blieben dabei, dass ein starker physischer Stress in Kombination mit Alkohol und Marihuana beiMarco Clerici zu einem tödlichen Kreislaufkollaps geführt habe. Worin dieser starke physische Stress bestand, ließen sie, trotz der dokumentierten Schlagverletzungen und Würgemale, im Dunkeln. Die von den Nebenklägern bestellten Gutachter listeten eben diese Verletzungen auf: das von Hämatomen entstellte Gesicht des Opfers, die zahllosen Striemen auf allen Extremitäten und auf dem Brustkorb, die Male im Kehlkopfbereich. Sie legten den Schluss nahe, dass die Gewaltanwendung der Polizisten ursächlich für den Tod des Jungen verantwortlich war.
Und nun kam die Phase, die Marcos Freunden und Angehörigen wie Hohn vorkommen musste. Die drei Polizisten wurden gehört. Sandro Massari, Stefano Catozzo und Antonino Pulla redeten, in jeweils fast identischem Wortlaut, von einer »beispielhaft, in Einhaltung aller geltenden Dienstanweisungen, durchgeführten Aktion«. Sie hätten Marco Clerici gegen halb drei Uhr auf der Straße in verwirrtem Zustand angetroffen, Hilfe angeboten und gleichzeitig zur Identifizierung um seine Papiere gebeten. Daraufhin habe der Junge angefangen, sie zuerst verbal und dann körperlich anzugreifen. Er habe wie ein Wahnsinniger um sich geschlagen, sei auf einen
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