Der Tote am Steinkreuz
diese Wirkung. Selbst Fidelma mußte zugeben, daß die Halle auch dem Palast ihres Bruders in Cashel Ehre machen würde. Nach wenigen Augenblicken trat eine schlanke Gestalt hinter einem Wandbehang am Ende des Podiums hervor und ging zu dem verzierten Sessel. Fidelma erblickte eine junge Frau von kaum mehr als neunzehn Jahren. Sie hatte hellblondes langes Haar und blaßblaue Augen. Zweifellos war sie hübsch. Doch Fidelma erschienen ihre Züge zu hart, um Vertrauen zu erwecken, und die blauen Augen wirkten kalt. Der Mund war leicht zusammengepreßt, so daß ein Gesamteindruck von unnachgiebiger Strenge entstand. All das erfaßte Fidelma mit einem Blick.
Die junge Frau trug ein Kleid aus blauer Seide und einen dazu passenden Schal aus gefärbter Wolle, der von einer reich verzierten Goldbrosche zusammengehalten wurde. Die Hände hatte sie züchtig vor sich gefaltet. Sie blickte die beiden mit fragender Miene an.
»Ich bin Crón, Tanist von Araglin. Ihr wollt mich sprechen?«
Ihre Stimme, ein weicher Sopran, verriet kein Entgegenkommen.
Fidelma verbarg ihre Überraschung, daß eine so junge Frau zum Nachfolger des Fürsten eines Bauernstammes gewählt worden war. Ländliche Gemeinden waren meistens konservativ, wenn es darum ging, ihre Anführer zu wählen.
»Ich glaube, ich werde erwartet«, erwiderte sie in formellem Ton.
Das Gesicht des blonden Mädchens blieb ausdruckslos.
»Warum sollte ich Klosterleute hier bei uns erwarten?« fragte sie. »Pater Gormán betreut uns in allen Glaubensdingen.«
Fidelma unterdrückte einen leisen Seufzer der Ungeduld.
»Ich bin eine dálaigh bei Gericht und komme hierher, um den Tod Ebers, eures vorigen Fürsten, zu untersuchen.«
Cróns Gesicht zuckte einen Moment und nahm dann wieder seine ausdruckslose Starre an.
»Eber war mein Vater«, sagte sie leise. »Er wurde ermordet. Es geschah ohne meine Einwilligung, daß meine Mutter beim König in Cashel einen dálaigh anforderte. Ich bin selbst in der Lage, diesen Fall zu untersuchen. Jedenfalls habe ich nicht erwartet, daß der König von Cashel daraufhin jemanden schickt, der so jung und vermutlich ohne Kenntnis der Welt außerhalb von Klostermauern ist.«
Bruder Eadulf stand dicht hinter Fidelma, er sah, wie sich ihre Schultern strafften, und wartete gespannt auf ihren unvermeidlichen Zornesausbruch. Doch ihre Stimme blieb ruhig, beinahe zu ruhig.
»Der König von Cashel, mein Bruder Colgú …« Fidelma hielt kurz inne, um ihre Worte wirken zu lassen. »Mein Bruder bat mich, herzureisen und die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen. Du brauchst nicht zu befürchten, daß es mir an der nötigen Kenntnis fehlt. Ich bin bis zum Rang eines anruth ausgebildet. Ich wage zu glauben, daß die Zahl meiner Jahre höher und meine Erfahrung größer ist als die deinige, Tanist von Araglin.«
Der Grad eines anruth war der zweithöchste, den die weltlichen und geistlichen Hochschulen Irlands zu vergeben hatten.
Es trat Schweigen ein, während sich die beiden Frauen ansahen; kalte blaue Augen starrten in funkelnde grüne, und jedes Gesicht trug eine regungslose Maske. Hinter diesen Masken schätzten beide rasch die Stärken und Schwächen der anderen ab.
»Ich verstehe«, sagte Crón langsam. In ihren einfachen Worten schwangen die unterschiedlichsten Gefühle mit. Dann fand sie zu ihrem scharfen Tonfall zurück. »Und wie ist dein Name, Schwester Colgús?«
»Ich bin Fidelma.«
Der kühle Blick der blonden Frau wandte sich nun fragend Eadulf zu.
»Dieser Bruder scheint fremd in unserem Land zu sein.«
»Dies ist Bruder Eadulf …«, stellte ihn Fidelma vor.
»Ein Angelsachse?« erkundigte sich Crón verblüfft.
»Bruder Eadulf hält sich als Abgesandter des Erzbischofs von Canterbury am Hofe meines Bruders in Cashel auf. Er wurde auf unseren Hochschulen ausgebildet und kennt unser Land gut. Es interessiert ihn, wie unsere gerichtlichen Verfahren ablaufen.«
Das war nicht die ganze Wahrheit, doch für Crón sollte sie genügen.
Die Fürstin warf Eadulf einen finsteren Blick zu, neigte den Kopf zu einer gerade noch höflichen Begrüßung und wandte sich wieder an Fidelma. Sie lud sie nicht zum Sitzen ein und blieb auch selbst stehen.
»Nun, diese Angelegenheit ist einfach. Als Tanist hätte ich sie auch allein regeln können. Mein Vater wurde erstochen. Der Täter, Móen, wurde ergriffen, wie er noch mit dem Dolch in der Hand über die Leiche gebeugt stand, und Móens Hände und Kleidung waren mit dem Blut meines
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