Der Tote am Steinkreuz
näherten.
Der Leichnam war der eines Mannes in den Dreißigern. Es war ein häßlicher Mann mit vernarbtem Gesicht und einer Knollennase, die anscheinend von einem Schlag plattgedrückt war. Die Augen waren dunkel, groß und blicklos. Die Kleidung war blutbesudelt und mit einem eigenartigen feinen weißen Staub bedeckt. Man hatte ihm die Kehle so tief durchgeschnitten, daß der Kopf fast vom Rumpf getrennt war. Das erinnerte Fidelma an eine Ziege oder ein anderes Haustier, das man geschlachtet hatte. Eins war klar, er war nicht im Kampf getötet, sondern vorsätzlich ermordet worden. Fidelma besah sich die Handgelenke und erkannte die Reibespuren von Fesseln. Bis vor kurzem waren seine Hände gebunden gewesen. Mit hochgezogenen Brauen schaute sie Dubán an.
»Diesen Mann habe ich noch nie zuvor in Araglin gesehen«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Er ist fremd in diesem Tal, soviel ich weiß.«
Fidelma rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Das wird immer verwirrender. Ein Überfall findet statt. Die Räuber töten einen fremden Gefangenen oder einen ihrer eigenen Leute. Sie ziehen mit lediglich zwei Milchkühen ab und versuchen nicht, mehr Beute zu machen. Warum?«
»Das läßt sich leicht erklären, wenn es Muadnats Leute waren«, bemerkte Scoth grollend.
»Warum nimmst du an, dieser Tote war ein Gefangener oder gehörte zu ihren eigenen Leuten?« fragte Dubán und betrachtete die Leiche.
»Das ist sehr wahrscheinlich«, antwortete Fidelma. »Bis vor kurzem waren ihm die Hände auf dem Rücken gebunden. Das erklärt auch, warum man ihm ohne Widerstand die Kehle durchschneiden konnte. Weitere Wunden hat er nicht. Er muß also ein Gefangener der Räuber oder einer von ihnen gewesen sein. Jedenfalls ist er nicht vom Himmel gefallen, oder?«
Plötzlich beugte sie sich nieder und untersuchte stirnrunzelnd die Unterarme und Hände des Mannes.
»Was ist?« fragte Eadulf.
»Dieser Mann war harte Arbeit gewöhnt. Seht euch die Schwielen an seinen Händen an, seine Narben und den Schmutz unter seinen Fingernägeln.«
Fidelma betrachtete nun das Gesicht des Toten genauer.
»Erinnert dich dieser Mann an jemanden, Eadulf? Jemanden, der uns in den letzten Tagen begegnet ist?«
Eadulf schaute ihn genau an und schüttelte den Kopf.
»Vermute ich richtig, daß es seit gestern nicht geregnet hat?« fragte Fidelma nun Archú.
Der junge Mann blickte verwirrt drein, nickte aber.
Jetzt untersuchte Fidelma sorgfältig die Kleidung des Leichnams. Sie schien sich für die feine Staubschicht darauf zu interessieren. Dann stand sie auf.
»Araglin wird allmählich zu einem Land voller Geheimnisse«, bemerkte sie leise. »Wir sollten wohl zu Muadnats Hof reiten.«
»Meinst du, daß Muadnat hinter all dem steckt?« fragte Dubán zweifelnd.
»Es wäre logisch, ihn zuerst zu verhören«, erwiderte Fidelma, »besonders nach allem, was sich bisher ereignet hat.«
»Da hast du wohl recht«, antwortete Dubán zögernd. »Wenn wir davon ausgehen, daß es ein Räubertrupp war, dann ist es seltsam, daß Archús Hof überfallen wurde und Muadnats nicht. Sein Hof ist leichter zu erreichen und besitzt mehr Vieh als Archús.«
Dubán befahl einem seiner Männer, bei Archú zu bleiben und ihm bei der Beerdigung der Leiche zu helfen. Die übrigen saßen wieder auf und trabten den Weg zu Muadnats Hof entlang.
Eadulf machte Fidelma ein Zeichen und ließ sich ans Ende der Kolonne zurückfallen.
»Ist es klug, sich in diese Angelegenheit einzumischen?« fragte er so leise, daß nur sie es hören konnte.
»Klug?« Sie war überrascht. »Ich dachte, wir stecken schon mittendrin.«
»Du hast den Auftrag, den Mord an Eber zu untersuchen, nicht dich in die Fehde zwischen Archú und seinem Vetter verwickeln zu lassen.«
»Das stimmt«, meinte Fidelma. »Aber ich habe das Gefühl, daß viel mehr hinter den Geheimnissen von Araglin steckt, als man uns glauben machen möchte. Sieh dir an, wie Dubán und Crón ihr Verhältnis verheimlichen. Nach außen hin heißt es, Eber sei geachtet gewesen, insgeheim gibt man zu, daß er gehaßt wurde. Wo liegt die Wahrheit? Und Muadnats Abneigung gegen seinen Vetter: Ist das ein Teil der Feindschaften in diesem Tal, oder gibt es etwas, was alle diese Punkte verbindet, wie ein Spinnennetz, in dessen Mitte ein böses Wesen lauert?«
Eadulf unterdrückte einen Seufzer.
»Ich bin nur ein Fremder in diesem seltsamen Land, Fidelma. Ich bin auch nur ein einfacher Mensch. Ich verstehe die Feinheiten
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