Der Tote im Eiskeller
hoch. «Noch scheint der Mond, das ist gerade die richtige Stimmung für eine solche Lektüre.»
Sie nahm die Schuhe in die Hand, schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und setzte sich, in eine Decke gehüllt, auf die Bank unter dem Holunder. Der Mond stand gerade hoch genug, um sein Licht über die Dächer zu schicken, es war kalt, und der Dunst, der von der tagwarmen Erde aufstieg und sich bis zum Morgen zu Nebel verdichten würde, ließ selbst den friedlichen Hof unheimlich erscheinen. Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn die dicke Katze der Krögerin Pause von ihrer nächtlichen Mäusejagd gemacht und sich vertraulich schnurrend zu ihr auf die Bank gesetzt hätte.
Magnus’ Zeilen waren wirklich nur kurz, doch er wusste mit Worten umzugehen. Sie reichten, um ihr verlorenes Vertrauen zurückzubringen. Als sie sie viermal gelesen hatte und schon auswendig wusste, faltete sie den Bogen und blickte in die diesige Nacht. Unsichere Schritte tapsten hinter dem hohen Bretterzaun vorbei, ein oder zwei Straßen weiter riefen die Nachtwächter die Stunde aus, sie verstand nicht, welche, doch die Stadt war schon so still, es musste sehr spät sein.
Selbst Magnus’ Brief konnte sie nur für kurze Zeit von dem ablenken, was sie bei Jakobsen erfahren und – vor allem – was sie nicht erfahren hatte. Und von dem kurzen Blick aus den hellen Augen über dem schwarzen Bart.
KAPITEL 9
An diesem Abend verlief das Essen im Hause Herrmanns schweigsamer als gewöhnlich. Augusta hatte sich nach ihrem Besuch bei Madame Malthus in ihr Zimmer zurückgezogen, immerhin hatte sie den Teller mit kleinen Leckereien und das Glas Burgunder, die Anne ihr hinaufgebracht hatte, nicht abgelehnt. Es gehe ihr gut, hatte sie den besorgten Blick der Frau ihres Neffen beantwortet, sie sei nur ein wenig müde und der Redefluss Madame Polters habe ihr Bedürfnis nach Gesprächen für heute mehr als befriedigt.
Im Speisezimmer bestritten Claes und Niklas den größten Teil der Unterhaltung. Anne mischte sich erst ein, als sie fand, Claes habe seinen jüngsten Sohn nun genug nach seinen Fortschritten in der Lateinschule ausgefragt, um nicht zu sagen: examiniert. Sie lenkte das Gespräch auf Ostindien, wobei sie sich nicht einmal Mühe gab, es unauffällig und geschickt zu tun. Vater und Sohn waren gleichermaßen an dem fernen Land interessiert, wenn auch – wie in vielen Fällen – aus unterschiedlichen Gründen. Claes begeisterte sich für die ungeheuren Reichtümer, die dort erworben werden konnten, wobei er sich mit seiner damit verbundenen Lieblingsklage, nämlich über das schändliche Handelsmonopol der Londoner
East India Company,
in Gegenwart seiner englischen Ehefrau höflich zurückhielt.
Niklas träumte trotz seiner heimlichen Angst vor Piraten von einer Reise in das ferne Land, vor allem, weil er dort besonders aufregende Käfer und Schmetterlinge vermutete. Auch gegen Begegnungen mit Tigern und Elefantenhätte er nichts gehabt. Einzig die Schlangen interessierten ihn überhaupt nicht. Es hieß, durch die indischen Wälder und Sümpfe schlängelten sich wahre Höllenungeheuer, deren Gift noch schneller töte als das der gelben Skorpione in den nordafrikanischen Wüste.
Wie Anne gehofft hatte, wurde auch Fenna bei diesem Thema munter. Sie hatte von ihrem Vater vor dessen Abreise viel über Ostindien gehört, auch besaß sie einen Reisebericht über Bengalen, auf dessen Abbildungen außer Häfen und Landschaften ein mächtiges Panzernashorn und einige Exemplare der dort besonders reichen Vogelwelt zu entdecken waren. Käfer leider nicht.
Thea widmete sich wie meistens einzig dem Essen, trotzdem entging ihr kein Wort, das am Tisch gesprochen wurde.
«Ihr habt heute Madame Malthus besucht», wandte sie sich plötzlich, leise genug, um das Gespräch der anderen nicht zu unterbrechen, an ihre Tischnachbarin. «Ist sie wohlauf?»
Anne war mit ihren Gedanken weit fort gewesen und brauchte einen Augenblick, bis die Frage der Zofe in ihr Bewusstsein drang.
«Nein», sagte sie dann ebenso leise, «das ist sie gewiss nicht. Ihr könnt schwerlich anderes erwarten.»
Thea schob einen Kern aus ihrem Mirabellenkompott an den Tellerrand und nickte. «Die Frage war dumm, verzeiht, Madame. Einen Sohn zu verlieren …» Der lange Blick, den sie Fenna zuwarf, verriet, dass sie ihre junge Herrin eher als eine Tochter empfand. «Und Monsieur Malthus, Elias? Habt Ihr ihn auch getroffen?»
«Nein. Ich denke, er war noch in seinen Gärten.
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