Der Tote im Eiskeller
Oder, das ist wahrscheinlicher, mit den Vorbereitungen für das Begräbnis beschäftigt.»
«Es geht böser Klatsch in der Stadt um. Habt Ihr davon gehört?»
«Wegen des Testaments?»
«Ja. Aber das geschieht immer. Selbst als Fennas Mutter starb, gab es Gerede. So hat Monsieur Malthus doppelt zu leiden. Dabei ist er ein ungemein honoriger Mann, von großer Zuverlässigkeit. Auch darin», der nächste Kern wanderte auf den Tellerrand, «unterscheidet er sich angenehm von seinem Bruder.»
Anne staunte, nicht nur weil Mamsell Thea selten so viel sprach, sondern auch, worüber sie sprach. «Ihr hieltet Viktor für unzuverlässig?» Es bereitete ihr Mühe, die Stimme gesenkt zu halten. Der Tisch war groß und die Stimmen der ins Gespräch über ostindische Nabobs und die Unterschiede von Löwen und Tigern vertieften drei laut, doch Fennas Ohren mussten für den Namen Malthus besonders empfindlich sein. «Warum? Und warum habt Ihr davon nichts gesagt, als er noch lebte?»
Thea legte den Löffel in ihren Teller und sah Anne mit ausdruckslosem Blick an. «Es war nur ein Gefühl, Madame», sagte sie sanft, «und auf Gefühle soll man nichts geben. Nicht, solange sie nur vage sind. Ich hätte es auch jetzt nicht erwähnen dürfen. Trotzdem hat Monsieur Malthus nun doppeltes Leid zu tragen. Man sollte, wo immer man diesem Klatsch begegnet, entschieden widersprechen.»
«Was flüstert ihr beiden denn so?» Claes, den die indische Fauna zu langweilen begann, unterbrach das Gespräch just in dem Moment, als es für Anne beunruhigend interessant wurde. Sie hätte gerne noch herausgefunden, warum Thea sich als Elias’ Fürsprecherin gebärdete. Und woher sie so genau um seine Honorigkeit (ein viel zu oft benutztes Wort, dem sie zutiefst misstraute) und seine Zuverlässigkeit wusste.
«Lasst uns teilhaben», bat Claes, «oder sag uns, Anne, welchem Untier du lieber begegnen möchtest, wir können es nämlich nicht entscheiden: dem afrikanischen Löwen oder dem bengalischen Tiger. Der Gepard ist schon ausgeschieden, aber der Eisbär auf Spitzbergen steht auch noch zur Wahl. Nun, was sagst du?»
Auch Anne konnte die Frage nicht entscheiden. Nachdem sie bald darauf die Tafel aufgehoben hatte und Niklas zu der seinem Vater versprochenen späten Lateinübung in sein Zimmer ging, wünschten auch Fenna und Thea eine gute Nacht. Anne und Claes setzten sich in den kleinen Salon und teilten sich die neuesten Ausgaben des
Hamburgischen Correspondenten
und der
Addreß-Comtoir-Nachrichten
. Beide liebten diese letzte Stunde des vergehenden Tages, die ihre Lektüre unterbrechenden Gespräche über Alltäglichkeiten oder die Ereignisse in der Welt.
Schon bald ließ Claes seine Zeitung sinken und legte die Lorgnette zur Seite, die er aus London mitgebracht hatte, aber nur in seinem Haus benutzte.
«Da sitzt du nun, meine Liebste, und hältst den
Correspondenten
ungelesen im Schoß. Machst du dir noch Sorgen um Fenna? Oder um Madame Malthus? Oder zerbrichst du dir den Kopf unseres Weddemeisters und grübelst dem Mörder nach?»
Anne sah sein Lächeln, mit dieser vertrauten Mischung aus Verstehen und liebevollem Spott, und spürte das wohlige Gefühl der Geborgenheit. Und einen Anflug von Unruhe. Wie schnell der Tod ein Glück beendet und mit der Hölle vertauscht, hatte sie gerade erlebt. War ihre Erleichterung, dass es andere getroffen hatte, niederträchtig?
«Von allem ein bisschen, Claes», sagte sie. «Obwohl mir die Sorge um Madame Malthus nicht zusteht. Sie ist auch überflüssig, um sie sorgen sich genug andere. Nicht zuletztAugusta. Diese Sache mit dem Testament geht mir allerdings nicht so rasch aus dem Kopf, aber du hast Recht, das ist einzig Wagners Angelegenheit. Warum lachst du?»
«Weil es zum Lachen ist. Wir haben uns noch immer in Angelegenheiten eingemischt, die einzig Wagners waren. Meistens ich, diesmal eben du. Solange es dich nicht auf nächtliche Straßen oder in die üblen Quartiere führt, ist es mir recht. Ich irre mich gewiss nicht, wenn ich annehme, dass Mademoiselle Rosina mit im Boot ist, oder?»
«Rosina, ja.» Anne rieb nachdenklich ihr Kinn. «Sicher ist sie das. Aber diesmal scheint ihre Neugier ein bisschen müde zu sein. Sie ist mit anderem beschäftigt. Erinnerst du dich an Magnus Vinstedt?»
«Aus London? Natürlich. Ein angenehmer junger Mensch.»
«Das findet Rosina auch. Sie haben seit dem letzten Jahr miteinander korrespondiert, und er wollte sie hier erwarten. Nun ist er nicht da, sondern
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