Der Tote im Eiskeller
die ungewohnt vehemente Verteidigungsrede erst richtig angefacht. Wagner hatte überlegt, wer auf die Idee mit dem Eiskeller als passenden Ort für diesen Tod gekommen sein könnte. Einer der Soldaten, hatte er angenommen, das am ehesten, oder einer aus den Häusern, die den Keller gemietet hatten. Also von den Malthus’ und den Herrmanns’. Nun tauchte ein ganz anderer Mann auf, einer, der kurz vor dem Mord in diesem Keller gewesen war, der ihn wahrscheinlich selbst fast bis zum Rand mit Eis gefüllt hatteund am besten wusste, welch tödliche Kälte dort herrschte. Ein Grönlandfahrer. Einer, der wenige Tage vor dem Mord den Ort des Mordes mit Eis aufgefüllt hatte, mit dem Eis, das Malthus das Leben gekostet hatte. Wie hatte der Wasserschout gesagt? Seeleute sind raue Gesellen. Das war nicht neu, aber wert, es nun neu zu bedenken.
«Erzähl doch mal», sagte sie, als Jakobsen frisch gefüllte Bierkrüge auf dem Tisch verteilte und sich wieder ihr gegenüber setzte, «erzähl doch mal von – wie heißt er? – ja, Ehrendorf.»
«Ermkendorf. Rutger Ermkendorf. Du lässt nicht locker, was?» Er nahm einen großen Schluck und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. «Na gut, dann pass auf. Besser, du hörst die Geschichte von mir als von irgendeinem Spinner, der falsche Schlüsse zieht. Oder mit Sachen angibt, von denen er nichts versteht.»
Rutger Ermkendorf war als Sohn von Kleinbauern aufgewachsen und erst spät, er war schon neunzehn Jahre alt gewesen, zur See gefahren. Zuerst auf kleinen Frachtseglern, dann auf großen Holländern und schließlich auf Walfangschiffen. Dort brachte er es schnell zum Harpunier. Schon auf der vorletzten Fahrt hatte er sich gefragt, ob dies das Leben war, das er sich wünschte, ob er dafür die ärmliche Kate und das nasse Land hinter dem Deich verlassen hatte. Das selbst im Hochsommer eisige Wetter, die brüllenden, Menschen und Schiffe fressenden Stürme, das treibende Eis und die Nebelbänke, das monatelange Leben an Bord oder in den elenden Hüttensiedlungen, in denen es wüster zuging als in Londons verwahrlostem Osten, der karge, oft schimmelige, immer gleiche Fraß, der fast so viele Männer das Leben kostete wie die Kämpfe mit den großen Tieren. Oder mit den Konkurrenten.
Dass ihm auch das Töten der mächtigen Wale wie derkleinen Robben immer weniger gefiel, gestand er sich nicht wirklich ein. Rutger Ermkendorf war nicht zimperlich. Aber auf dieser letzten Fahrt, bei der er so viele Männer hatte sterben sehen wie auf keiner zuvor, hatte er sich bei einer seltsamen Regung ertappt. Einmal, wenige Tage bevor sie den Schiffer der
Fortuna
endlich dazu brachten aufzugeben, statt Walspeck Eis zu laden und umzukehren, hatte er vom Deck aus beobachtet, wie eine der Schaluppen eines dänischen Walfängers von der riesigen Schwanzflosse eines schon fast besiegten Wals getroffen wurde. Das Boot flog durch die Luft wie ein Spielzeug und leerte seine sechsköpfige Besatzung in das eisige, schon blutrote Wasser wie Unrat. Obwohl er wusste, dass es für die Männer keine Rettung gab, hatte er nur auf den schwarzen Koloss geachtet und gehofft, der werde nun doch noch entkommen. Er entkam nicht, natürlich nicht, die nächsten Schaluppen waren schon da, die Harpunen bereit.
In diesem Moment hatte er gewusst, dass es Zeit war, und auf der langen Rückfahrt einen Entschluss gefasst. Er sehnte sich nach Stille und Frieden. Sollte die
Fortuna
überhaupt den sicheren Hafen in der Elbe erreichen, wollte er an Land bleiben. Endgültig. Wenn ihn das Meer doch nicht losließ, falls es ihm an Land zu eng und zu stickig werden sollte, konnte er immer noch auf einem Handelssegler anheuern. Einem, der nach Süden fuhr.
An dieser Stelle machte Jakobsen eine Pause. Ihm war eingefallen, dass ein Wirt noch andere Pflichten hatte, als neugierige Stammkunden zu unterhalten. Aber Lineken, seine dünne Schankmagd, lief eifrig zwischen den Gästen und dem Schanktisch hin und her, schleppte Bierkrüge und Branntweinkruken und sah aus, als genösse sie es bei aller Anstrengung, für diese eine Stunde die wichtigste Person im
Bremer Schlüssel
zu sein.
«Was will er an Land machen?», fragte Helena. «Hat er etwas anderes gelernt?»
«Ach was», nörgelte Servatius, bevor Jakobsen den Mund aufmachen konnte. «Der ist Kleinbauernsohn, und dazu der jüngere. Woher hätte er das Lehrgeld hernehmen sollen? So einer versteht sich nur auf Landarbeit. Wenn er schlau ist, geht er auf die
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