Der Tote im Eiskeller
dass ich inzwischen nicht mehr klein und hilflos bin. Seit wir hier sind, in dieser fremden Stadt – so sagt sie immer, obwohl
mir
die Stadt gar nicht mehr fremd erscheint –, gebärdet sie sich wie, wie …»
«Wie ein Zerberus?», half Anne.
«Richtig, wie ein Zerberus. Ich werde von Euch lernen, Madame, und zukünftig meine Wünsche durchsetzen. Egal, ob sie Theas Zustimmung finden oder nicht.»
«Fand Oberleutnant Malthus ihre Zustimmung? Mochte sie Viktor?»
Es schien, als halte Fenna die Luft an, bevor sie sagte: «Warum fragt Ihr das?»
«Aus keinem besonderen Grund. Da sie Euch sehr liebt und behütet, muss sie ein besonders kritisches Auge auf Eure Bewerber haben.»
«Das hat sie in der Tat. Allerdings gab es vor Viktor keinen, den ich ernsthaft in Betracht gezogen habe. Und Viktor», sie zupfte an einem heraushängenden Fädchen ihres Tuches, strich es glatt und verschränkte die Hände, «tatsächlich fand Viktor nicht ganz ihre Billigung. Er war ein Mann», sagte sie in plötzlichem Trotz, «kein Heiliger. Aber ich bin kein Kind mehr, ich weiß, dass Männer anders sind als Frauen.»
Anne musste ob dieser tiefgründigen Erkenntnis lächeln.
«Ihr habt mir Grüße von Madame Malthus ausgerichtet», fuhr Fenna fort, «denkt Ihr, ich hätte Monsieur Malthus’ Bitte, seine Mutter nicht vor Viktors Beerdigung zu besuchen, ignorieren sollen und auch einen Besuch machen?»
«Nein, das denke ich nicht. Ich habe mich nur Madame Kjellerup angeschlossen. Augusta hat ihre beiden Söhne früh verloren, in ihrer Gegenwart fühlte Madame Malthus sich verstanden und nicht genötigt, sich mit höflichen Ritualen zu quälen. Augusta hat die seltene Fähigkeit, ohne Worte zu verstehen und zu trösten. Ich war ganz überflüssig. Aber wie steht es um Eure Trauer? Findet Ihr genug Trost?»
Fenna ließ sich tiefer in die Kissen sinken, und ihr Blick wurde unsicher. «Trost. Ja, den finde ich.» Ihr Augen füllten sich mit Tränen, sie suchte nach einem Tuch und drückte es fest auf ihr Gesicht. «Es ist so verwirrend, Madame Herrmanns. Natürlich bin ich schrecklich traurig, aber ich bin nicht – verzweifelt. Das müsste ich doch sein: zutiefst verzweifelt. Ich habe ihn über alles geliebt, er war so schön und immer so galant. Und fröhlich. Aber die Trauer will mich nicht wirklich erreichen», sie legte beide Hände auf ihr Herz, «nicht hier. Versteht Ihr? Es ist, als sei er nur verreist, für eine lange Zeit, das wohl, aber doch, als komme er eines Tages zurück. Manchmal habe ich Lust zu lachen, und als gestern die beiden Straßenmusikanten unter dem Fenster spielten, habe ich beinahe getanzt. Ich hatte die Trauer vergessen und wollte tanzen. Das darf doch nicht sein. Habe ich denn keine empfindsame Seele? Und heute, als ich mit Thea spazieren ging, kamen uns zwei junge Herren entgegen, sie waren mir ganz unbekannt, aber der eine grüßte, in seinen Augen, nun, in seinen Augen war Schmeichelei. Und ich? Habe ich meine Augen niedergeschlagen?Nein, ich
war
geschmeichelt. Ich habe ihm zugelächelt. Das ist doch ehrlos.»
«Halt, Fenna, halt. Ehrlos ist ein sehr großes Wort. Eine Schmeichelei kann gerade in scheinbar unpassenden Momenten willkommen sein und auch gute Wirkung haben. Wenn die Trauer milder als Verzweiflung ist, solltet Ihr darum nicht mit Euch hadern. Der Tod, besonders ein so unerwarteter, ist unbegreiflich, oft brauchen wir Zeit, um ihn als wahr anzunehmen. Seid nicht zu streng mit Euch. Ihr habt ihn erst wenige Monate gekannt, vielleicht war es zu kurz, um den Verlust als schwarzen Abgrund zu spüren. Deshalb seid Ihr nicht empfindungslos.»
Fenna nickte, nur halb überzeugt, und wischte die letzte Träne weg. «Ich hoffe, Ihr habt Recht, Madame Herrmanns. Thea sagt, ich solle nicht von ihm sprechen, dann vergehe die Erinnerung und damit der Schmerz am sichersten. Ich möchte aber so gern von ihm sprechen. Hat Madame Malthus von ihm erzählt?»
Anne schluckte eine grimmige Bemerkung über Theas absonderliche Philosophie hinunter und dachte, dass die eher dem strengen Elias entspräche.
«Ja», sagte sie sanft, «das hat sie. Wollt Ihr davon hören?»
Madame Malthus mochte ein schlichtes Gemüt haben, ein Plappermaul wie ihre Freundin Madame Polter war sie nicht. Als sie sich gefasst hatte, mit den anderen Damen am Tisch saß und sich von Augusta hatte überzeugen lassen, dass, wenn schon kein Schlückchen Rosmarinbranntwein, doch ein Anisplätzchen der Seele wohl tue, zog sie ein
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