Der Tote im Eiskeller
Was ich bedauere, denn ich bin sicher, er hat gut und christlich gehandelt. Womöglich», überlegte sie weiter, «war es den Herren im Kriegsrat heimlich recht, weil der Delinquent einem von ihnen auf irgendeine Weise verbunden war. Das kommt doch gewiss vor, denkt Ihr nicht? Vielleicht wusste er etwas, zum Beispiel Unschickliches, das er bei der Verhandlung bekannt gemacht hätte. Oder er war ein heimlicher, illegitimer Sohn.»
«O Fenna», sagte Anne lachend, «Ihr lest zu viele Romane. Ein Gemeiner diesen Herrn so verbunden? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.»
«Was? Dass Viktor christlich handelte?
«Nein. Ich habe überlegt, ob ihn jemand wegen dieser Affäre genug gehasst haben könnte, um ihn, nun, um ihm das Leben nicht zu gönnen. Das macht keinen Sinn. Außer dem Stadtkommandanten kann es nur den Kriegsratgeärgert haben, der hätte wohl für eine Degradierung oder Entlassung gesorgt. Auf härtere Strafen hätte er kaum entschieden, immerhin gehörte der Oberleutnant zu einer angesehenen Familie.»
Mit den Strafen des Kriegsgerichtes kannte Anne sich wenig aus. Sie wusste, dass Meineidigen der Schwurfinger abgehauen wurde, bevor sie der Stadt verwiesen wurden. Auf Diebstahl konnte wie auf Totschlag und Desertion die Todesstrafe verhängt werden. Das waren uralte Gesetze, und seit einigen Jahren hatte das Gericht größeren Spielraum in seinen Entscheidungen, aber auch die Leibesstrafen waren drakonisch, wie in der zivilen Gesellschaft auch.
«Da wäre noch der Profoss», fuhr sie fort, «der kann damit überhaupt nicht einverstanden gewesen sein. Leibesstrafen sind allein seine Sache, und der Delinquent muss ihm eine Gebühr bezahlen. Vielleicht haben auch andere Offiziere Viktors Handeln verurteilt, sicher sogar, aber da müsste einer schon ziemlich verrückt sein, um deshalb seinen Tod zu wünschen. Dazu auf diese seltsame Weise.»
Fennas Gesicht war plötzlich klein und grau, und Anne begann sich zu schämen, so gedankenlos von diesen Dingen zu sprechen.
«Ihr seid müde, Fenna», sagte sie, trotzdem mit leisem Bedauern, «Ihr solltet versuchen zu schlafen. Ich will nicht vorschlagen, all das zu vergessen und das Nachdenken anderen zu überlassen. Das gelingt wenigen und führt selten zu ruhigen Nächten und guten Träumen. Doch vielleicht könnt Ihr versuchen, auf Eure Kraft und auf die Zukunft zu vertrauen.»
«Ich will es versuchen, Madame. Aber ich bin nicht müde. Wenn Ihr noch ein wenig bleiben wollt? Es ist soerleichternd, zu sprechen, ohne darüber nachdenken zu müssen, ob es genehm ist. Es ist Euch doch so genehm?»
«Absolut, Fenna. Wenn ich bleiben soll, darf ich dann eine letzte Frage stellen? Selbst eine, die vielleicht nicht nur erleichternd ist?»
«Ihr seid ziemlich gut in unangenehmen Fragen.» Fenna zog schüchtern lächelnd die Decke bis ans Kinn. «Fragt nur, bis jetzt hat es mir nicht geschadet.»
«Nun gut. Ihr müsst ja nicht antworten. In den letzten Tagen vor Viktors Tod schient Ihr mir sehr bekümmert. Und nun habt Ihr gesagt, er sei kein Heiliger gewesen. Der Gedanke, ich habe falsch gehandelt, als ich Viktor vertraute und meinen Mann drängte, Eurer Verbindung zuzustimmen, beunruhigt mich seit Viktors Tod bis in meine Träume. Mögt Ihr mir verraten, warum er ‹kein Heiliger› war?»
Fennas Blick wanderte von Annes Gesicht zu der kleinen holländischen Landschaft an der gegenüberliegenden Wand und hielt sich daran fest, als gebe es dort Unerhörtes zu entdecken. «Ihr habt nicht falsch gehandelt», sagte sie endlich, ihre Stimme klang sehr erwachsen. «Es ist nur eine Nichtigkeit, sie hatte nichts zu bedeuten. Es hat mich nur erschreckt, und Thea, sie hat es gut gemeint, wie immer, aber sie hat sehr streng geurteilt und mich so noch mehr erschreckt.» Fenna holte tief und schwer Atem, bevor sie fortfuhr: «Ich habe ihn mit einer anderen Frau gesehen. Unten am Hafen, als es schon dunkel zu werden begann. Sie gingen über diese Brücke bei der Hannöver’schen Post. Das war es, was mich erschreckt hat. Ich habe danach sogar geträumt, er sei aus der Stadt geritten, ohne Abschied und zurückzusehen, um nie mehr zurückzukommen.»
«Das war es? Mehr nicht? Thea soll der Teufel holen, wenn sie Euch deswegen Angst gemacht hat. Ist sie puritanischer als die Puritaner? Eine andere Frau – das heißt garnichts. Ich bin erst in der vergangenen Woche mit Thomas Matthew über den Jungfernstieg spaziert, er ist ein Freund unserer Familie, und ich kenne ihn noch
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