Der Tote im Eiskeller
länger als Claes. Viktors Familie kennt die halbe Stadt, er ist hier aufgewachsen und wird auch einige der Damen gut genug kennen, um sie, wenn er sie irgendwo trifft, ein Stück des Weges zu begleiten. Habt Ihr ihn nicht danach gefragt? Das wäre das Einfachste gewesen.»
«Nein, Madame, gar nicht einfach. Die Dame war nämlich – keine Dame. Ihr mögt mich für ein behütetes Kind halten, aber ich bin nicht so fremd in der Welt, eine solche Frau für eine Freundin der Familie zu halten. Wenn Ihr sagen wollt, Sie seien zufällig nebeneinander gegangen und hätten gewiss nichts miteinander zu tun gehabt, oder er hätte, wie es hin und wieder Art der Männer ist, nur die Gelegenheit genutzt, um ein wenig mit dem Feuer zu spielen und gleich weiterzugehen – bemüht Euch nicht. Das habe ich mir selbst genug gesagt. So war es nicht. Sie hing an seinem Arm, ihre Körper berührten sich, und sie lachten auf diese besondere Weise und sprachen miteinander. Und verschwanden zusammen in einer der Gassen.»
«Ihr macht mich ratlos, Fenna. Was soll ich dazu sagen? Ich glaube trotzdem …»
«Sagt gar nichts. Denn ich habe inzwischen gründlich darüber nachgedacht: Wäre er ein Heiliger gewesen, hätte ich ihn gar nicht gewollt. Ich will kein langweiliges Leben. Ich weiß, er hätte diese Frau und andere von ihrer Art nach unserer Hochzeit nicht mehr beachtet. Dazu hätte er doch keinen Grund mehr gehabt. Und dazu», mit einer ungehaltenen Bewegung ihrer Faust wischte sie eine dicke Träne von ihrer rechten Wange, «dazu hat Viktor mich viel zu sehr geachtet. Und geliebt. Das hat er doch? Nicht wahr? Er hat mich doch geliebt.»
Der Rock war aus verwaschenem blauem Kattun, an einigen Stellen geflickt und eindeutig zu kurz. Wenigstens war er sauber und wie auch das Mieder nicht zu eng. Die Magd der Krögerin maß einen halben Kopf weniger als Rosina, dafür war sie rundlich wie ein junger Mops. Für diesen einen Tag würde es schon gehen, und wenn die Leute ihr nachsahen, weil sie ihre Knöchel zeigte – was tat’s?
Heute konnte sie nichts wirklich stören. Selbst als die Magd ihr mit einer Schüssel Buchweizengrütze in den Weg lief und vor Schreck, zu so früher Stunde jemandem in der Küche zu begegnen, den Inhalt der Schüssel über Rosinas Mieder und Rock leerte, hatte sie nach dem ersten Ärger nur ein Lachen. Die Magd würde durch die verschüttete Frühstücksgrütze genug Verdruss mit ihrer Herrin bekommen. Rosina möge nichts von den beschmutzten Kleidern verraten, hatte sie gefleht, sie werde sie blitzschnell waschen, wenn Mademoiselle inzwischen mit ihrem eigenen zweiten vorlieb nehmen wolle, es sei ganz rein und noch kaum geflickt …
Rosinas zweiter Rock für alle Tage hing schon auf der Leine und war nach der feuchten Nacht kaum trockener als am Abend zuvor. So schlüpfte sie in die abgetragenen Kleider der Magd, nahm ein Stück Roggenbrot aus der Küche und machte sich, leise vor sich hin summend, auf den Weg zur Poststation auf der Hohen Brücke.
Denn als sie an diesem Morgen erwacht war, kroch gerade das erste Grau der Dämmerung durch das Fenster, Malines Atem hatte tiefen Schlaf verraten. Sie hatte sich gleich hellwach gefühlt, eilig gewaschen und angekleidet und an den Tisch am Fenster gesetzt. Die Feder war übers Papier geflogen, der Brief verschlossen und gebunden – die Postkutsche, die auch Göttingen passierte, brach früh auf. Der Posthalter erkannte sie gleich. Er verbeugte sich väterlichlächelnd und legte den Brief in einen der Beutel in dem bereitstehenden, fast bis zum Rand gefüllten Korb.
Inzwischen war die Sonne über die Dächer geklettert, saugte den über Fluss und Fleeten liegenden Nebel auf und wärmte die Menschen, die nun schon in großer Zahl ihren Geschäften nachgingen, auf Plätzen und an den Straßen ihre Ware feilboten, einfach durch den Morgen schlenderten oder herumlungerten, weil der Tag ihnen nichts Besseres bot.
Als Rosina sich am Mastenwald des Hafens und den behäbig über den Himmel segelnden Wolken satt gesehen hatte, als sie lange genug in Gedanken ihrem Brief vorausgeeilt war, wusste sie, wie sie den Vormittag beginnen würde. Der Besuch bei Wagner musste warten. Vielleicht würde sie später auch noch Anne im Herrmanns’schen Garten vor dem Dammtor besuchen, wo sonst sollte sie an einem so schönen Tag sein? Doch zuerst war sie neugierig auf einen anderen Garten.
Sie fühlte sich voller Tatendrang, und so schnell die Menge der Menschen und
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