Der Tote im Eiskeller
hatte er kaum gewagt, sich auf mehr als die Stuhlkante zu setzen. Als er nun an die Tür klopfte, schien ihm das sehr lange her zu sein. Auch jetzt noch zog er seine eigene winzige Wohnung oder den
Bremer Schlüssel
dem vornehmen Raum im Haus dieser reichen, wichtigen Leuten vor, aber er fühlte sich hier und in deren stets so gelassen erscheinenden Gegenwart nicht mehr, nun ja, nicht mehr wie ein Wurm. Insbesondere, wenn auch Rosina dort war.
«Wagner, sehr schön. Seid willkommen.» Anne Herrmanns ging ihm entgegen und wies auf einen der zierlichen Stühle, die um den runden Tisch standen.
«Guten Abend, Wagner», sagte Rosina, «schaut mich nicht so kritisch an. Die Kleider gehören der Magd der Krögerin, warum, ist nicht von Belang.»
Wagner hüstelte und ertappte sich bei einem seltenen Grinsen. Das geflickte, etwas zu weite Mieder bemerkte er erst jetzt. «Und was habt Ihr mit Euren Händen gemacht? Wären sie nur so – schwärzlich, würde ich denken, Ihr habt in einer Kattundruckerei beim Farberühren ausgeholfen, aber woher sind die Kratzer?»
«Brombeeren», sagte Rosina düster. «Nun setzt Euch, was es mit den Brombeeren auf sich hat, erfahrt Ihr gleich. Ihr seid der Weddemeister, also seid Ihr zuerst dran. Oder sind Eure Erkenntnisse geheim und Ihr wollt nur unsere hören?»
Darüber hatte Wagner noch nicht nachgedacht. Weil sich nun die Tür wieder öffnete und Elsbeth wie ein guter Engel der Hungrigen mit einem großen Tablett voller Teller und Platten hereinkam, blieb ihm dazu noch ein wenig Zeit. Wieder kam ihm ein Kuss in den Sinn: Sie hatte an das frische, saftige Brot gedacht.
Wagner sah und roch die Pastete, den Braten, das Brot, den buttergelben Käse und das mit Zimt gewürzte Pflaumenkompott, erinnerte sich daran, dass er in dieser Gesellschaft keinesfalls zugleich essen und reden durfte, und beschloss, die Sache mit dem Drillhaus auszulassen. Das, da war er sicher, interessierte Rosina und Madame Herrmanns wenig. Selbst kluge Frauen verstanden sich schlecht darauf, Zusammenhänge und das große Ganze zu bedenken oder gar zu erkennen.
Allerdings erwähnte er, was Major Breinhardt über das Loblied auf den Ehrenmann Malthus hinaus gesagt hatte, nämlich dass der Oberleutnant sich mit dem Pulverdiebstahl und überhaupt der Lagerung des Pulvers in derStadt beschäftigt hatte. Leider war es Wagner nicht gelungen, mehr herauszubekommen. Im Übrigen, so hatte er inzwischen entschieden, fand er bedeutender, was er von Fähnrich Börne erfahren hatte: «Als der Deich um Spadenland, Ochsenwerder und Tatenberg durchstochen wurde», begann er, «kamen die Bauern mit Forken, Spaten und Knüppeln, wollten die Männer verjagen und ihren Deich retten. Natürlich waren sie hoffnungslos unterlegen, einfache Bauern gegen unsere Garnison, dazu das ganze Wasser, aber man weiß ja nie, und eine so, nun ja, so wütende Meute – jedenfalls hatte der Oberleutnant den Befehl über die Soldaten, die die Arbeit am Deich schützten, und als es brenzlig wurde, hat er schießen lassen.»
«Ja», Anne nickte nachdenklich, «davon habe ich gehört. Hat er nicht über die Köpfe schießen lassen? Das war doch milde, wer sonst hätte das getan?»
«Die wenigsten», stimmte Wagner streng zu, «die wenigsten. Aufruhr ist Aufruhr. Es hat trotzdem einen der Bauern getroffen. Er war nicht tot, aber schwer genug verletzt, dass ihm wenige Tage später der Arm amputiert werden musste. Ich glaube, es war der linke. Ich habe mit dem Chirurgen gesprochen, der das gemacht hat. Pullmann, er lebt im alten Müllerhaus bei Lombard. Gewiss kennt Ihr ihn, Madame Herrmanns.»
«Ja», Anne nickte, «hin und wieder ist es hilfreich, einen guten Chirurgen zur Hand zu haben, findet Ihr nicht? Soviel ich weiß, hat er eine sehr tüchtige Helferin. Habt Ihr sie gesehen?»
«Sehr tüchtig, es scheint so, ja. Pullmann weiß nur, dass der Bauer mit Vornamen Andreas oder Anders heißt, aber nicht, in welcher Straße, nicht mal, in welchem Quartier er jetzt wohnt. Grabbe ist unterwegs und sucht nach einem vor nicht zu langer Zeit Amputierten. Der Deich wurde inder vorletzten Juliwoche durchbrochen, da wurde der Kerl auch amputiert.» Er schnaufte grimmig. Selbst sein tüchtiger Weddeknecht würde in dieser großen Stadt mit ihren Armutsquartieren in den verwinkelten Gassen kaum einen finden, der sich zu verbergen suchte. Auch keinen, der so einen verriete, es sei denn gegen bare Münze.
«Der linke Arm», sagte Rosina. «Vielleicht habe ich
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