Der Tote im Eiskeller
den Mann gesehen.»
«Wo?», schnappte Wagner und setzte sich aufrecht. «Wann?»
«Ich bin nicht sicher, erzählt erst weiter. Das gehört sowieso zu meinem Teil der Geschichte.»
«Ich glaube nicht, dass der Bauer noch in der Marsch wohnt», fuhr Wagner widerwillig fort, «selbst wenn er nach dem Absaufen seiner Kate bei Verwandten unterkriechen konnte. Er ist danach noch zweimal bei diesem Chirurgen bei der Mühle am Lombard gewesen, von der Marsch ist das mit einer solchen Wunde zu weit.»
«Warum?», fragte Rosina. «Ihm fehlt doch kein Bein.» Nach ihrem Wanderleben empfand sie die Strecke selbst von Zollenspieker bis zum Lombard als einen Katzensprung.
«Zu weit», beharrte Wagner. Dass ihn das Verhalten des Chirurgen und nicht weniger dessen Magd in seiner Überzeugung bestärkte, behielt er für sich. Es war ja nur ein Gefühl. Der verletzte Bauer, berichtete er weiter, sei von einem Mann und einer jungen Frau gebracht worden, von denen der Chirurg auch weder Wohnung noch Namen kenne.
«Hm», machte Rosina, und Anne sagte: «Genau. Das ist wenig. Manche Wundärzte sind so, die interessieren sich nur für ihr Geld. Also vermutet Ihr, Wagner, der Bauer wollte sich für den verlorenen Arm rächen?»
«Und für die gefluteten Inseln. Die Leute dort haben alles verloren. Solche brauchen einen Sündenbock. Warum nicht den Offizier? Solche Rabauken verstehen nicht, wenn ein Mann seine Pflicht im Dienst der Stadt tut und einem Befehl folgt. Das
wollen
sie nicht verstehen.»
«Wie hätte denn einer aus der Marsch, der sich sicher nicht gut in der Stadt auskennt, auf die Idee mit dem Eiskeller kommen sollen?», fragte Anne.
«Und wie sollte einer mit nur einem gesunden und einem halben schmerzenden Arm diesen Balken vor die Kellertür wuchten?»
«Das frage ich ihn, sobald ich ihn gefunden habe», knurrte Wagner. Er warf Rosina einen scharfen Blick zu, doch die war mit der Betrachtung ihrer Fingernägel beschäftigt.
«Der Oberleutnant hatte sonst keine Feinde», sagte Wagner, «er war in der Garnison und auch allgemein beliebt, er war ein bisschen – nun, lebenslustig.» Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass die junge Frau, die mit dem lebenslustigen Viktor verlobt gewesen und von dieser speziellen Art Lebenslust tief getroffen sein musste, in diesem Haus lebte. Er zog sein großes blaues Tuch aus der Tasche und wischte sich über die Stirn. Als er es wieder einsteckte, entschied er, es gehe sowieso nicht an, vor einer Dame wie Madame Herrmanns von Liebeleien jünger Offiziere zu sprechen. Hätte er gewusst, dass nicht nur Anne, sondern auch Fenna diese Seite Viktors kannte, hätte er gestaunt.
Anne hatte das Kinn in die Hände gestützt und sah wie so oft zum Fenster hinaus. Leider gab es dort nichts Aufheiterndes zu sehen, sondern nur die nachtschwarze Scheibe. Sie dachte für einen sorgenvollen Augenblick an ihren Mann. Doch der saß nun sicher und zweifellos besterStimmung mit den anderen Mitgliedern der Commerzdeputation im Commerzium. Brooks hatte ihn begleitet, ihm würde nichts geschehen.
Der Gedanke an Claes half nicht. Warum nur hatte sie dieses Treffen arrangiert? Warum hatte sie sich nicht aus dieser ganzen Sache herausgehalten und Wagner seine Arbeit allein tun lassen, wie es sich gehörte? War ihr Leben so langweilig, dass sie eitel ihre Nase in diese schmutzige Angelegenheit stecken musste? Es war doch genug, wenn Rosina sich einmischte, bei einer Komödiantin wunderte das niemanden. Wenn sich das jedoch von einer Kaufmannsfrau herumsprach – warum hatte Claes nur gelacht und nicht widersprochen? Vor allem aber: Musste sie nun wirklich Farbe bekennen?
«So esst doch, Weddemeister», sagte sie, schob ihm die Platte mit dem Fleisch und der Pastete näher, dann die mit Käse und Butter, brach das Brot und reichte ihm das größere Stück. «Ihr müsst hungrig sein. Wir sind unter uns, Ihr könnt ruhig beim Reden essen.»
Sie legte diskret ein Mundtuch neben seinen Teller, füllte endlich die bereitstehenden Gläser mit Rheinwein und nippte an ihrem.
Plötzlich erschien es ihr niederträchtig, zu erzählen, was sie bei Madame Malthus erfahren hatte. Sie konnte nicht an eine Schuld Elias’ glauben. So wie sie niemals bei einem Menschen aus der ihr vertrauten Umgebung an eine schwere Schuld glauben konnte.
Sie hatte Glück. Der Bericht über die Malthus’schen Familienstreitigkeiten blieb ihr erspart. Das hatte Wagner selbst herausgefunden. An diesem Morgen hatte er endlich bei Ascan
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