Der Tote im Eiskeller
Deichdurchstich noch an der fatalen Amputation die geringste Schuld.
Wenn
dieser Einarmige denn überhaupt derjenige sei, den Wagner suche – solche gebe es gewiss etliche in der Stadt.
Wagner hörte weiter zu, widmete sich inzwischen Käse, Butter, Brot und Wein und war bester Stimmung. Es ging voran. Madame Herrmanns’ Rede interessierte ihn wenig.
Leider versetzte Rosina ihm einen Dämpfer. «Du magst Recht haben, Anne. Allerdings glaube ich, dass die Menschen selten kühl und vernünftig denken, besonders wenn sie ins Unglück gestoßen wurden. Andererseits, da ist noch einiges andere. Es geht ja nicht nur um den Oberleutnant. Was haben Malthus und Ermkendorf mit den anderen Männern zu tun?»
Wagner setzt sein Glas abrupt ab. Es musste am ungewohnten Wein liegen, der machte übermütig und verdarb das Denken. «Die Überfälle, natürlich. Die habe ich nicht vergessen», log er, «nicht vergessen, ja. Gleichwohl», nun war es doch angebracht zu hüsteln, «ja, gleichwohl. Ich meine, möglicherweise, nur möglicherweise, muss man die Dinge tatsächlich getrennt betrachten.» Das entsprach inzwischen nicht mehr ganz seiner Überzeugung, warum auch immer, doch nun war es das Einzige, das er sagen konnte. Sagen musste, wenn er nicht zugeben wollte, dass er diesen ganzen Wirrwarr nicht mehr verstand.
«Ja», sagte Rosina fröhlich und stibitzte ihm das letzte Stück Brot vom Teller, «möglicherweise.»
Als Rosina und Wagner sich bald darauf verabschiedeten, hielt Anne ihre Freundin noch einen Moment zurück.
«Hast du Post bekommen?», fragte sie, und als Rosina nickte: «Angenehme Post?»
«Überaus angenehm. Wenn alles gut geht, ist er bald hier. In wenigen Tagen.»
Anne umarmte sie, was als ein Zeichen größter Vertraulichkeit äußerst selten geschah. «Und dann», sagte sie, «und dann, wer weiß – vielleicht kehrst du doch ins bürgerliche Leben zurück.»
Diesmal sagte Rosina nicht ‹womöglich›. Sie lief rasch die Treppe zu dem wartenden Wagner hinunter.
Anne stand am Fenster und sah den beiden nach, bis sich ihre Konturen hinter dem diffusen Licht der Laterne bei der Jungfernbrücke auflösten. Dann bewegte sich nichts mehr. Und Claes war immer noch nicht nach Hause gekommen.
‹Aber›, dachte sie wieder und versuchte, ein heiteres Gesicht zu machen, ‹er hat ja Brooks mitgenommen.› Jedenfalls hatte er es versprochen.
Rosina war keine ängstliche Natur, doch in dieser Nacht war sie froh, Wagner an ihrer Seite zu haben. Wieder lag herbstlicher Dunst über der Stadt, über den Fleeten, in den an ihnen verlaufenden Gassen hatte er sich schon zu wattigen Schwaden verdichtet. Ein furchtsames Gemüt konnte sie unter dem mondlosen Himmel leicht für Gespenster halten.
Beide hingen ihren Gedanken nach, bis Wagner plötzlich sagte: «Wenn ich es richtig verstanden habe, habt Ihr heute im Malthus’schen Garten als Tagelöhnerin gearbeitet?»
Rosina lachte, leise nur, als könne sie die Stille der Nacht stören. «Ich bin für eine ausgebliebene Tagelöhnerin eingesprungen. Einen so grandiosen Zufall konnte ich nicht ungenutzt lassen. Glaubt mir, Wagner, ich bin schon in weniger anstrengende Rollen geschlüpft. Sollte ich je einen Garten zu bestellen haben, hoffe ich, dass ich mir einen Gärtner leisten kann.»
«Und dort habt Ihr unvermutet den Grönlandfahrer gefunden. Das ist allerhand.»
«Nicht wirklich. Ich wollte in Elias Malthus’ Nähe, und Ermkendorf hat schon vor vielen Jahren für die Malthus’ gearbeitet. Nun will er nicht mehr zur See fahren, also arbeitet er erst mal wieder für ihn. Hätte ich das gewusst, hätte ich wohl gleich dort gesucht. Wenn ich ihn überhaupt gesucht hätte. Verdächtig finde ich ihn erst, seit ich um seine Verbindung zu Elias Malthus und von den Testamentsstreitereien weiß.»
«Hat er Euch erkannt? Ihr habt bei Jakobsen nur wenige Fuß von ihm entfernt gesessen.»
«Ich glaube ja, aber warum sollte eine Tagelöhnerin nicht mit ihrer Familie oder Freunden, die sich Jakobsens Suppen leisten können, dort sein? Falls er sich erinnert hat, hat er sich nichts anmerken lassen, er war auch bald verschwunden. Morgen gehe ich noch einmal hin. Ich habe so ein Gefühl, als sollte ich dort weiter die Augen und Ohren offen halten. Was denkt Ihr, Wagner?»
«Es kann nicht schaden. Gewiss nicht schaden.»
Ihre Schritte klangen dumpf auf der Brücke über den Herrengrabenfleet, als plötzlich zwei Männer in langen schwarzen Mänteln und großen, tief in die
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