Der Tote im Eiskeller
ruhige Menschen. Nicht einmal der jüngere Sohn, der gerade im richtigen Alter für solcherlei Bosheiten war, zog je eine Schleuder aus der Tasche, um auf Vogeljagd zu gehen.
Ab und zu beherbergte Madame Krögers Haus auch Mieter, wandernde Handwerker, die keiner Innung angehörten und deshalb auch bei keinem Meister Aufnahme fanden, reisende Kleinhändler oder Studenten. Alle blieben nur kurze Zeit, und nur einer hatte sich durch unmanierliches Lärmen bemerkbar gemacht, zumeist spät am Abend, wenn die Wirtshäuser schlossen und die Nachtwächter die letzten Herumtreiber von den Straßen scheuchten oder bis zum Sonnenaufgang in den Arreststuben der Wachhäuser einsperrten.
Doch seit einigen Tagen war es mit der Ruhe vorbei
.
An einem trüben Nachmittag waren die drei hochbepackten Wagen der Becker’schen Komödiantengesellschaft in denHof gerollt. Nun war das Haus überfüllt, ständig klappten Fenster, fielen Türen ins Schloss, hallten Rufe über den Hof, Unmengen von Wäsche flatterte auf der Leine beim Stall. Überhaupt lebten und arbeiteten diese seltsamen Fremden mehr im Hof als im Haus. Selbst Madame Kröger, eine mehr oder weniger ehrbare Witwe mit Ehrfurcht gebietender weißer Haube, erhob ihre Stimme lauter, und ihr Mädchen lachte schriller.
Die Neuankömmlinge zählten ein gutes Dutzend, sie schienen nie still zu sitzen, nie zu schweigen. Ausgenommen der noch sehr junge Mann mit dem roten Haar, den sie Muto riefen. Der sprach nie, selbst wenn er lachte, was nur hin und wieder geschah, tat er das wohl mit weit offenem Mund, gleichsam mit seinem ganzen Körper, doch ohne Töne. Während die anderen noch schliefen zu dieser frühen Stunde, wenn die Luft feucht und frisch und der sommerliche Gestank aus den Fleeten und übervölkerten Hinterhöfen noch nicht aufgestiegen war, kam er geräuschlos wie ein junger Fuchs aus dem Haus geschlichen. Er setzte sich auf die Bank unter dem Holunder und wartete geduldig zum Himmel blickend darauf, dass die Sonne über die Dächer stieg. Sein leicht geneigter Kopf zeigte, dass er auf die Geräusche der erwachenden Stadt lauschte. Und auf den Gesang der Vögel. Dann zwitscherten die Schwalben besonders schön, und manchmal konnten sie hören, wie er leise versuchte, ihre Melodie nachzupfeifen. Es gelang ihm von Tag zu Tag besser.
Die Schwalben mochten den Rothaarigen, und weil sie ihn auch nicht fürchteten, war er der Einzige, dem sie ihre rasanten Flugkünste so nah vorführten, dass er ihre flinken zarten Körperchen hätte greifen können. Sie waren sicher, er würde es nie versuchen.
Auch an diesem frühen Abend saßen Menschen im Hof,zum Glück nur drei Frauen, und schon seit dem Sechs-Uhr-Läuten hatte keine auch nur ein Wort gesprochen. Der hohe Bretterzaun sperrte den größten Lärm der umliegenden Straßen und Werkstätten aus, und wenn die Hämmer des Kupferschmieds in der übernächsten Twiete für einen Moment schwiegen, war es so still, dass man das Kratzen von Federn auf billigem Papier hören konnte. Eine der Frauen, sie war eher hager als zierlich und wurde Gesine gerufen, hockte auf einer umgestülpten Kiste und nähte. Obwohl sie als Gewandmeisterin der Komödiantengesellschaft alle Tage mit bunten Stoffen und Flitter hantierte, war sie so schlicht gekleidet wie die Pfarrersfrauen in den Dörfern vor der Stadt; das mausbraune Haar war im Nacken zu einem aufgerollten dünnen Zopf gefasst. Ihr schmales Gesicht verriet jene Ruhe, die aus einer bescheidenen Zufriedenheit entsteht. Nur manchmal, wenn sie für einen Wimpernschlag von ihrer Arbeit aufsah, um den anderen beiden Frauen einen raschen, prüfenden Blick zuzuwerfen, verrieten ihre Augen, dass sie nicht so ergeben war, wie sie schien.
Die beiden anderen saßen sich an einem grob gezimmerten Tisch gegenüber, zwischen sich ein Tintenfässchen, und kopierten, jede für sich, einen Text, der ihren Augen einige Mühe bereitete. Was weniger an dem matter werdenden Tageslicht lag, als an den mit offensichtlicher Hast geschriebenen Zeilen ihrer Vorlage.
Rosina Hardenstein und Helena Becker glichen einander überhaupt nicht. Rosina war Ende zwanzig und so honigblond und schlank wie die um ein knappes Jahrzehnt ältere Helena kastanienbraun und trotz der schmalen Taille üppig.
Auf der Bühne war Rosina als Soubrette, die gerade noch jugendliche Liebhaberin, Tänzerin und in Hosenrollen zu sehen. Der verhaltene Ausdruck von Skepsis in den Augenund die lange Narbe auf der linken Wange taten ihrer
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