Der Tote im Eiskeller
Wittens, den Bocholts und Viktor wurden nur wenige Gäste erwartet, trotzdem war es ein ungemein wichtiger Abend. Die Herrmanns’ legten großen Wert auf die gute Meinung vor allem der van Wittens, was nicht zuletzt daran lag, dass van Witten als Senator und überaus erfolgreicher Großkaufmann eine gewichtige Stimme in der Stadt und ihrer feinen Gesellschaft war. Und – das hatte sie durch die Tür des kleinen Salons gehört, obwohl sie wirklich nicht hatte lauschen wollen – weil Monsieur Herrmanns sich mit seiner Entscheidung, einer Verbindung Fennas mit Viktor Malthus zuzustimmen, wohler fühlen werde, wenn der Senator ihn akzeptiere. Daran zweifelte Fenna keine Minute.
Sie selbst legte größeren Wert auf Madame Herrmanns’ Meinung. Die stammte von der englischen Insel Jersey, lebte erst seit wenigen Jahren in Hamburg und war weit gereist, erst im vergangenen Jahr bis nach den amerikanischen Kolonien, worum Fenna sie glühend beneidete. Anne Herrmanns war bekannt für ihren guten (manche sagten: leichtfertigen) Geschmack, sie war eine Dame mit klarem, unbestechlichem Blick und ihre Gesellschaft nie langweilig. Obwohl ihre Heimat eine kleine Insel nahe der französischen Küste und somit tiefste Provinz war, wirkte sie in der behäbigen Stadt an der Elbe trotz allen Bemühens,sich in die hanseatischen Sitten einzufügen, wie ein bunter Vogel. Ihr Versprechen, Fenna bald mit in das kleine Theater am Dragonerstall zu nehmen, hatte Fennas Sympathie für Anne Herrmanns umgehend zu Verehrung wachsen lassen. Niemals hätte ihr Vater einem so frivolen Vergnügen zugestimmt. Zum Glück wusste Madame Herrmanns das nicht. Und sie hatte Viktor gleich gemocht, natürlich hatte sie das.
Monsieur Herrmanns hatte seine Zustimmung zu dieser Heirat erst gegeben, als Viktor erklärte, er werde seinen Offiziersrock zum Ende des Jahres ausziehen und in das Malthus’sche Familienunternehmen eintreten. Ein Kaufmann galt in dieser Stadt alles – ganz besonders bei wohlhabenden Kaufleuten wie Claes Herrmanns –, selbst wenn er Bäume, Blumen und Sämereien verkaufte, was auch bei Verbindungen bis Bordeaux, London und sogar St. Petersburg natürlich nicht so viel galt wie der Handel mit Weizen, Eisen, Kaffee, Zucker oder Holz.
Fenna warf die Feder auf die Ablage – die Tinte war längst eingetrocknet – und legte den zur Hälfte beschriebenen Bogen in die Mappe. Der Brief an ihren Vater mit dem überfälligen Dank für die Uhr würde auch heute nicht fertig werden. Sie schob die Mappe in die Schublade ihres Pultschreibtisches, ließ die Finger, wie stets, wenn sie die Schublade schloss, leicht über den Beschlag aus vergoldeter Bronze gleiten, und wischte ein Stäubchen von der mit Ebenholz und Palisander eingelegten Mahagoniplatte. Sie liebte das so zierliche wie elegante Möbelstück fast so sehr wie das große englische Bett mit dem Himmel aus nachtblauer Seide und war fest davon überzeugt, dass sie viel amüsantere Briefe und seelenvollere Gedichte schrieb, seit sie in diesem Zimmer wohnte.
Außerdem barg der Aufsatz des Schreibtisches dieseshübsche geheime Fach, in dem sich verstecken ließ, was niemand finden durfte. Der Brief zum Beispiel, den ihr ein Straßenkind vor dem Laden des Opticus gegeben und in dem Viktor sie um ihr erstes heimliches Treffen gebeten hatte. Oder der winzige Tiegel mit dem Rouge, das sie allerdings niemals gewagt hatte zu benutzen. Nicht wegen der Herrmanns’, sondern wegen Thea. Thea sah alles und würde sie mit gefärbten Wangen und Lippen nicht einmal die Treppen hinunter in die Diele lassen. Sie vergaß ständig, dass Fenna einundzwanzig Jahre alt war und spätestens im nächsten März eine würdige Ehefrau.
«Fenna!» Thea, Amme, Zofe und strenge Hüterin der einzigen Tochter Baptist Lehnerts, stand mit in die hageren Hüften gestemmten Fäusten in der Tür. «Wozu musste ich dir schon am Nachmittag das Mieder schnüren, bis du kaum mehr atmen konntest, wenn du nun hier herumsitzt und träumst? Die ersten Gäste sind da, und dein zukünftiger Herr Ehemann ist gerade in den Hof geritten. Warum bist du noch nicht im Salon und redest dummes Zeug, wie es sich gehört? Halt!» Mit energischem Griff hielt sie Fenna fest, die rasch an ihr vorbei zur Treppe laufen wollte, und zog eine besonders üppige rubinrote Seidenblume aus ihrem Haar. «Denkst du ich seh das nicht? Ich hab die da nicht reingesteckt. So ein Aufputz schickt sich höchstens für eine Karnevalstanzerei, davon kann
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