Der Tote im Eiskeller
trat auf eine breitere Gasse, blieb stehen und lauschte hinein, dann überquerte er sie mit raschen Schritten und tauchte in den nächsten schwarzen Durchlass ein.
Die Gasse schien Rosina vertraut. War das nicht wieder der Lange Gang? War das nicht die gute Gelegenheit, diese Dummheit zu beenden und zurückzulaufen zu den großen Straßen? Diese Gassen glichen einander alle, womöglich lief sie in die falsche Richtung, in eine noch üblere Gegend, und dann … Sie spürte den schlammigen, klebrigen Schmutz an ihren Füßen, längst hatte er ihre dünnen Schuhe durchdrungen, fühlte trotzige Wissbegier und huschte Rutger Ermkendorf nach in den Gang.
Nun traf sie auf Menschen und wünschte sich gleich, sie wären wie zuvor nur hinter den Mauern aus bröckelndem Fachwerk und feuchtem Holz, in den nach Schimmel, Fäulnis und Kot stinkenden Kellerlöchern oder hoch über ihr unter den Dächern. Manche starrten sie an, als sei sie ein fremdes Tier, andere wandten sich ab, als bringe sie das Böse. Nur eine Frau griff nach ihrem Arm; ihre Hand war knochig und klebrig von uraltem Schmutz, ihr Gesicht wie ein Knäuel von dunklen Falten, die Linsen ihrer Augen milchig getrübt, ihr Kopf von den dünnen grauen Strähnen kaum mehr bedeckt.
«Bleib doch», flüsterte sie mit kehliger Heiserkeit, «bleib hier. Gib mir deine Hand, ich weiß, was drinsteht. Ich kann’s sehen, ich kann’s fühlen, ich kann’s lesen. Dein ganzes Leben, langes Leben, schönes Leben.»
Rosina wandte den Kopf vor dem fauligen Atem aus dem zahnlosen Mund, sie versuchte die fordernde Hand abzuschütteln, doch der Griff wurde fester, presste ihren Arm wie eine Zange – und ließ plötzlich los. Sie stolperte zurück, taumelte gegen die Wand, stieß sich ab und hastete weiter.
«Langes Leben», hörte sie hinter sich krächzen, «schönes Leben. Im Hiiiiimmel», schrilles Lachen erstickte in rostigem Husten, «im Hiiiiiimmel, nur im Hiiiiiimmel.» Aus den Wänden um sie herum erscholl ein rauer Chor höhnischen Gelächters.
Rosina war egal, wo der Schwarzbärtige war, egal, wohin dieser Gang führte, sie wollte nur weg. Raus aus dieser Vorhölle. So schnell der rutschige Boden es zuließ, hastete sie vorwärts, bog um eine Ecke und blieb, schwer atmend nach Luft ringend, jäh stehen.
Luft. Hier gab es wieder Luft, die wert war zu atmen. Und Licht.
Der kleine Platz vor ihr erschien nach dem, was sie während der letzten so entsetzlich langen Minuten gesehen und erlebt hatte, wie ein sonniger Garten. Was nicht nur wegen des grauen Himmels falsch war.
Eine dürre Linde reckte sich dem Licht entgegen, an ihrem Fuß standen zwei Kübel mit Astern, leuchtende Fremdlinge in einer freudlosen Umgebung. Die Äste des schief zum Licht gewachsenen Baumes ragten über ein mit ordentlichen Ziegeln gedecktes Haus, seine Fenster waren nicht gerade blitzblank, aber die roten Vorhänge hinter den Scheiben in der oberen Etage waren deutlich zu erkennen.Aus dem Haus, an dessen Rückseite sich Rosina wiedergefunden hatte, klangen Stimmen. Ganz normale Stimmen, sie krächzten nicht, sie grölten nicht, sie husteten nicht, es waren ganz normale Stimmen. Und aus dem Schuppen auf seiner linken Seite klang es, als ob dort ein Pferd ungeduldig scharre und schnaube.
Hustete da nicht doch jemand, leise und gequält? Nein, das war ein anderes Geräusch gewesen, dem sie nun keine Zeit hatte nachzulauschen. Aus dem Abtritt, jedenfalls verriet der scharfe Geruch, dass sich in dem schmalen Schuppen rechts des Hauses einer befinden musste, trat ein Mann, seine Kleider waren nicht reich, aber auch nicht ärmlich. Er nestelte noch an seiner Hose, ungeniert und seinen Blick schon auf die Frau gerichtet, die schmutzig im Hof stand, die dicken blonden Locken wirr, die Schuhe nur noch klebrige Reste.
«Ohoho», sagte er, schnalzte leise und verzog den Mund zu diesem Grinsen, das Rosina nur zu gut kannte. «Du bist neu hier, was? Ich hab dich jedenfalls noch nie gesehen, dann musst du neu sein. Du solltest mal baden, aber so ein bisschen Dreck», er kam mit einem Satz näher und packte sie an den Handgelenken, «kann auch amüsant sein. Was hast du denn?» Seine Finger griffen fester zu, je mehr sie sich wehrte, umso vergnügter wurde sein Grinsen, seine Zunge glitt nass über die Lippen, er versuchte, sie näher zu sich zu ziehen – und stöhnte fluchend auf und presste die Hände just an die Stelle, wo immer noch ein Knopf seiner Hose geöffnet war.
Ihr Stoß war nicht hart
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