Der Tote im Eiskeller
auf irgendetwas. Wie Grabbe manchmal in seinen überraschenden Momenten von Hellsicht sagte: ‹Wenn man kein Brot hat, machen auch Krümel satt.›
Am Ende der Brücke blieb er erschreckt noch einmal stehen. Beinahe wäre er umgekehrt. Wer sagte denn, dass diese dritte, in der Nacht am Grimm entkommene Person auch eine Frau war? Viel wahrscheinlicher war doch ein Mann als der Anführer der Bande. Hatte man jemals davon gehört, dass Frauen …?
Er starrte zum schwarzen Turm der Mühle hinauf, zu den still stehenden Flügeln, zum verhangenen Himmel. Manchmal hasste er seinen Beruf. Die vielen offenen Fragen, die Notwendigkeit, stets das Böse und Verderbte zu suchen und zu finden. Die zahllosen Gelegenheiten sich zu irren. Noch einmal wischte er sich über die Stirn, dann eilte er weiter.
Der Chirurg und seine Helferin saßen auf der Bank vor dem Haus, halb verborgen hinter dem Rest einer ehemals den kleinen Vorplatz schützenden Hainbuchenhecke. ZuWagners Verdruss war sie nicht hoch genug, um sich dahinter zu verbergen und zu lauschen, Pullmann entdeckte ihn gleich.
«Sieh an, der Weddemeister», sagte er und zeigte einladend auf einen Schemel neben der Bank. Wagner fand, der Chirurg hätte zur Begrüßung aufstehen müssen, das tat Pullmann nicht, und als Marie aufstehen wollte, um ihren Herrn mit seinem Besuch allein zu lassen, griff er nach ihrem Handgelenk und zog sie auf die Bank zurück. Was Wagner wiederum sehr recht war.
Er stellte den Schemel vor die Bank und betrachtete seine beiden Gegenüber.
«Ihr seht zufrieden aus, Weddemeister», sagte Pullmann freundlich. «Ich dachte, Euer Beruf gebe Euch dazu wenig Anlass.»
«Wenig», sagte Wagner, «in der Tat, sehr wenig. Aber hin und wieder, nun ja.»
Sein Blick glitt von Pullmann zurück zu Marie. Ihre Hände waren violett verfärbt, was nichts Besonderes war, denn zu ihren Füßen stand eine Schüssel mit frisch gepflückten Holunderbeeren, ihre dunkelblaue Schürze, sogar ihre weiße Bluse und das Mieder wiesen Flecken von den saftigen Beeren auf. Interessanter, geradezu beglückend fand Wagner die Flecken in Maries Gesicht und auf ihrem rechten Unterarm.
«Nun», sagte Pullmann, «führt Euch unsere schöne Aussicht her, oder seid Ihr immer noch auf der Suche nach dem Bauern, den Ihr für einen Mörder haltet?»
«Möglicherweise», sagte Wagner, hob den Finger und wiederholte: «Möglicherweise. Nein, heute führt mich anderes zu Euch, das heißt, genau genommen nicht zu Euch, sondern zu Eurer Magd oder, wenn Ihr das lieber hört, zu Eurer Gehilfin.» Er sprach zu Pullmann, doch er sah Marieunverwandt an, sah mit großer Befriedigung ihren unruhigen Blick, die verschlungenen, fest aneinander gepressten Hände. ‹Krümel›, schoss es ihm frohlockend durch den Kopf, ‹Krümel machen in der Not nicht nur satt, sie führen direkt zum Brot.›
«Sagt nicht, Ihr wollt sie mir abwerben.» Pullmann lächelte immer noch, obwohl Wagner fand, dass seine Augen etwas Kaltes und Wachsames bekommen hatten. «Ihr müsst wissen, Marie ist, nun, sagen wir ruhig unverkäuflich. Es sei denn», er wandte sich ihr mit diesem wachsamen Blick zu, «es gefällt ihr nicht mehr bei mir.»
«Papperlapapp», entfuhr es Wagner, er hatte keine Zeit für launiges Geplänkel. «Woher habt Ihr die Schramme im Gesicht, Mamsell Marie? Und die blauen Flecke auf Eurem rechten Arm.»
«Von der Arbeit», sagte Marie, ihre Stimme klang rauer, als Wagner sie in Erinnerung hatte. «Ich weiß es nicht genau, so etwas passiert, wenn man arbeitet. Habt Ihr nie blaue Flecken? Der am Arm, ach ja», fuhr sie hastig fort, «jetzt fällt es mir ein. Gestern wurde einem Kranken unwohl, als er das Messer sah. Ja, das kleine Messer für den Aderlass. Da hat er nach meinem Arm gegriffen und sich festgehalten. Schrecklich fest.»
«Festgehalten, soso. Hat er Euch auch im Gesicht – gekratzt? Ist das überhaupt ein Kratzer? Oder war es ein Hieb?»
«Was sollen diese Fragen?» Pullmann sah nun gar nicht mehr freundlich aus. «Ich denke, das geht Euch nichts an. Marie», sagte er zögernd, «ist eine schöne junge Frau. Leider hat sie einen Verehrer, der gern ein wenig heftig wird. So ist es doch, Marie? Da Ihr, verehrter Weddemeister, ein Mann von Diskretion und Ehre seid, wird Euch diese Auskunft genügen. Auch wenn Rat und Geistlichkeit andersdenken, das private Leben meiner Gehilfin geht niemanden etwas an.»
«Verehrer, aha. Das trifft sich gut. Dieser – Verehrer kann gewiss
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