Der Tote im Eiskeller
vielleicht dreißig. Aber keine Reitendiener, keine Trommler und Sänger, nicht mal der Turmbläser ist zu hören. Vom Rat ist auch keiner da. Und sein Regiment? Nicht mal seine Kompanie ist dabei, wo die Uniformiertenin ihren roten Röcken und weißen Hosen hinter dem Sargwagen doch immer so stolz aussehen. Im Gleichschritt marsch, das macht was her und klingt gut. Wie ein zweites Totenglöckchen. Ram-tam-ram-tam. Und der Pastor – der ist kein Hauptpastor. Und für so was Bescheidenes muss Madame Malthus noch dankbar sein und Herr Elias auch. Verstehst du denn nicht? Du kommst wohl aus keiner christlichen Gegend, was? Wer so stirbt, ob von eigener oder fremder Hand, ohne die Segnungen unserer Kirche, hat bei uns kein Recht auf ein manierliches Begräbnis. Wer sich selbst ums Leben bringt, wird überhaupt nur an der Kirchhofmauer verscharrt, mit Glück und einem dicken Batzen in den Gotteskasten an der Innenseite. Eigentlich. Aber heutzutage und wenn man was zählt in der Stadt …»
Plötzlich hatte Rosina kein Ohr mehr für die Ungerechtigkeiten dieser Welt im Allgemeinen und bei Begräbnissen wohlhabender Bürger im Besonderen. Auf der anderen Seite der Straße, gleich hinter der letzten Kutsche, die sich in diesem Moment in Bewegung setzte, entdeckte sie einen Mann von gedrungener Gestalt mit einem kurz geschorenen schwarzen Bart. Rutger Ermkendorf drehte sich um und schob sich behutsam durch die hinter ihm stehenden Menschen. Rosina vergaß alle Pietät. Sie flitzte unter allgemeinem Kopfschütteln und missbilligendem Schnalzen an Leichenwagen und Kutschen vorbei über die Straße und sah ihn gerade noch in den Langen Gang einbiegen.
‹Geh nicht allein in das Gängeviertel›, hatte sie Maline gebeten. Na und? Was für Maline galt, galt nicht für sie. Der Lange Gang war eine der manierlicheren Gassen des Gängeviertels, hier gab es sogar einige bescheidene Läden und Werkstätten, wenn auch keine, in denen Anne Herrmanns und ihre Köchin gekauft hätten. Trotzdem war bis auf einen Torfverkäufer mit seinem von zwei gelben Hundengezogenen Karren und einer jungen Frau mit einem Korb nasser Wäsche niemand auf der Straße.
Der Lange Gang verlief im Zickzack, als sie um die zweite Ecke bog, war Rutger Ermkendorf verschwunden. Sie entdeckte die schwarze Lücke zwischen zwei Häusern, glaubte darin Schritte und ein Hüsteln zu hören und tauchte ein in das Labyrinth der Gänge.
Schlagartig umfing sie Dunkelheit, die Hauswände, zwischen denen der Gang verlief, kragten so weit über, dass sie sich hoch über ihr fast berührten. Den Rest des Lichts schluckte fleckige Wäsche, die auf zwischen winzigen Fenstern gespannten Leinen hing. Sie wusste nicht, wohin der Gang führte, sie wusste nicht, wie sie Ermkendorf folgen sollte, war sie zu schnell, kam sie ihm zu nah, war sie zu langsam, verlor sie ihn. Sie musste ihn hier verlieren, keine zehn Fuß, ohne dass eine Tür in einen Keller führte, ein Loch in einer Wand in einen Hof oder anderen Gang.
Und nun? Zurück? Sofort!, flüsterte die Vernunft. Niemals!, flüsterte die Neugier. Keine Frage, wer gewann. Der schmale Weg unter ihren Füßen fühlte sich schlammig an, einmal stieg sie über eine tote Katze, die ihre sich langsam an den Dämmer gewöhnenden Augen gerade noch rechtzeitig entdeckt hatten, einmal rutschte sie auf etwas aus, das sie nicht erkennen konnte. Nur weil die nächste Mauer gerade eine Armlänge entfernt war, stürzte sie nicht in das nach Kloake stinkende Rinnsal in der Mitte des Ganges.
Immer wenn sie glaubte, sie habe ihn verloren, sah sie seinen Schatten oder hörte seine Schritte. Je weiter sie ging, umso mehr empfand sie ein verstörendes Gefühl der Verbundenheit. Da verfolgte sie einen Mann, der sie – vielleicht – zu einem Mörder führen sollte, der – vielleicht – selbst einer war, und doch überfiel sie die Panik der Verlorenheit, sobald er ihr zu entkommen schien.
Wo waren die Menschen? Tausende lebten hier, hatte sie gehört, die Geschichten, die von diesem elenden Quartier erzählt wurden, schienen das zu beweisen. Wo waren die? Da war ein Summen um sie herum, auch einzelne Stimmen, einmal, als der Gestank unerträglich schien, grunzten Schweine, irgendwann hörte sie einen schrillen Pfiff über ihrem Kopf, aus einer Luke unter einem durchhängenden Dach grinste ein Gesicht zu ihr hinunter, es polterte, und die Fratze verschwand. Endlich schimmerte helleres Licht vor ihr auf, nun sah sie deutlich seinen Rücken. Er
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