Der Tote im Eiskeller
genug gewesen – diese verdammten Röcke. Als sie an ihm vorbeirennen wollte, richtete er sich ächzend auf, holte aus und verfehlte nur knapp ihr Gesicht. Da drehte sie sich um und stürzte dorthin, woher sie gekommen war.
Sie kam nur drei Schritte weit. Ein Arm schoss hervor und zog sie mit einem Ruck aus dem Gang, eine schwielige Hand legte sich auf ihren Mund – das Einzige, was sie wahrnahm, bevor das Dunkel sie umschloss, waren ein leichter Fichtengeruch und eine Wange mit kurz geschorenem schwarzem Bart.
Nachdem Grabbe die beiden Frauen wieder in den Kerker gesperrt und der Weddemeister ihm aufgetragen hatte, für sie frisches Brot und Speck zu kaufen, auch einige Äpfel, falls das Geld reiche, lief Wagner in der Stube auf und ab wie ein gefangener Wolf. Das war ein kurzes Verhör gewesen und so unergiebig wie selten. Er brauchte eine Pause, um nachzudenken. Nicht dass er weich oder wankend geworden wäre; er zweifelte keine Sekunde daran, dass die Richtigen auf den Strohsäcken im Kerker hockten. Irgendwann würden sie den Mund aufmachen. Dieser Gedanke kreiste in seinem Kopf und gefiel ihm immer weniger.
Beide Frauen hatten Gründe für die Überfälle gehabt, jedenfalls auf Hecker und Müllerjohann. Und Monsieur Bocholt? Darüber würde er später nachdenken. Auch über den Oberleutnant, obwohl ihm die Aufklärung des einzigen Überfalls mit tödlichem Ausgang am stärksten auf der Seele lag. ‹Aber›, so dachte er nun, ‹eines nach dem anderen.›
Nach Monsieur Herrmanns’ und Brooks’ Bericht waren sie zu dritt gewesen. Daran gab es nichts zu zweifeln, er kannte beide als nüchterne, klar denkende Männer und hatte am Morgen selbst mit ihnen gesprochen. Monsieur Bocholt hatte er noch nicht befragt, das war ein Versäumnis, doch zunächst schien ihm anderes wichtiger.
Wieso hatte Magda, eindeutig die Rädelsführerin, Karla erwähnt? Wieso wusste sie von den Anfällen von Mondsüchtigkeit, die seine Frau hin und wieder heimsuchten?
Nach Hecker, vor Müllerjohann, war ein anderer Mann überfallen worden, der Oberaufseher des Spinnhauses. Wenn die Frauen die Überfälle aus Rachsucht begangen hatten, dann wäre dieser Überfall vermutlich aus dem gleichen Grund geschehen. Viele mochten Anlass haben, den Oberaufseher zu hassen, wie es im Spinnhaus zuging, war bekannt. Aber nur wenige, denen es überhaupt gelungen war, wieder heraus und in die Freiheit zu gelangen, lebten noch in der Stadt. Für die meisten folgte auf die Entlassung die Ausweisung, für manche auch die Deportation nach den amerikanischen Kolonien der Engländer. Doch zu denen, die in der Stadt lebten, gehörte auch seine Frau. Von der Magda ein Geheimnis wusste.
«Karla», flüsterte er, und noch einmal lauter, als könne er den schrecklichen Gedanken so besser prüfen: «Karla?»
Er schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. Das würde sie nicht tun. Niemals. Nicht einmal im Schlaf, wenn so etwas überhaupt möglich war. Was wusste er denn über diese beunruhigende Angewohnheit seiner Frau – gar nichts. Er wollte nichts darüber wissen, als sei sie dann nicht wirklich vorhanden.
Aber es war ja unmöglich. Sie hatte Nacht für Nacht im gleichen Bett geschlafen wie er, neben ihm, in seinen Armen. Er schlief wie ein Stein, das stimmte, und ihr Schlaf war leicht. Wenn sie es wirklich einmal schaffte, die Riegel an der Tür, die er vorsorglich angebracht hatte, im Schlaf zu öffnen, wenn sie …
Da fiel es ihm endlich ein, ein Lachen brach aus seiner Kehle, befreit und übermütig. Er griff nach seinem Hut und machte sich, so schnell ihn seine Beine trugen, auf den Weg.
Als er über die Lombardsbrücke eilte, war er atemlos, und sein Hemd klebte auf der schweißnassen Haut seinesRückens. Er blieb stehen, bis Atem und Herzschlag sich beruhigt hatten, wischte mit dem Ärmel den Schweiß von Gesicht und Nacken und überlegte, mit welchen Fragen er am besten zum Ziel kam. Wie Karla hatte auch Marie im Spinnhaus gesessen, mit ebenso geringer, wenn nicht gar geringerer Schuld, es war nur recht und billig, wenn sie wieder in Freiheit lebte. Wie Karla.
Während er bei seiner Frau eine sanfte Seele wusste, hatte er bei Marie eine freche Stärke gespürt. Sie passte zu Magda Knebusch, sie passte in seine Vorstellung von einer Frau, die sich nicht schikanieren ließ, ohne auf Rache zu sinnen. Er hatte keinen Beweis, nicht einmal einen Hinweis, er hoffte nur auf den Zufall (an den er sonst nicht glaubte), auf ein falsches Wort –
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