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Der Tote im Eiskeller

Der Tote im Eiskeller

Titel: Der Tote im Eiskeller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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bezeugen, wo Ihr während der letzten Nacht wart. Als die Uhr zehn schlug und eine Stunde davor und danach.»
    «Gestern in der Nacht?», fragte Pullmann. Dann lachte er plötzlich wieder dieses Lachen, das Wagner nicht mochte, dem zutiefst zu misstrauen war. «Immer gebt Ihr Rätsel auf. Lasst mich eine Lösung versuchen. Sie sind absurd, ich kann Eure Gedanken dennoch raten: In der letzten Nacht wurden zwei Frauen erwischt, als sie einen unserer ehrenwerten Kaufleute überfallen wollten. Obwohl wir hier am Rande der Stadt leben, erreichen uns solche Neuigkeiten schnell. Zwei Frauen also, und es heißt, eine dritte sei entkommen. Nun glaubt Ihr», er lehnte sich zurück, legte den Arm um Maries Schultern und zog sie zu sich heran, «nun glaubt Ihr, meine Marie sei diese dritte. Richtig geraten?»
    Wagner wartete auf das Lachen, aber Pullmann lachte nicht. Er zog Marie, die, den Blick fest auf ihre ineinander verkrampften Hände geheftet, stocksteif auf der Bank saß, noch näher, bis ihr widerstrebender Körper weich wurde und sich in den schützenden Arm schmiegte.
    «Seht Ihr, Weddemeister?», fuhr Pullmann fort, während er behutsam, als sei sie ein Kind, über Maries Haar strich. «Wir müssen Euch ein Geständnis machen. Allerdings ist es nicht das, das Ihr hören wollt. Ich bin es, der bezeugen kann, wo Marie in der letzten Nacht war. Sie ist
nicht
in der Stadt herumgelaufen, um ehrenwerte Männer zu überfallen. Nein, Marie war hier. Bei mir. Nicht nur als die Uhr zehn schlug und eine Stunde davor und danach, sondern die ganze Nacht.»
    Wagner schnappte nach Luft, er fühlte sich wie ein Fischauf dem Trockenen, wie ein Jäger, dem der Fuchs die sichere Beute gestohlen hatte. «Bei Euch», wiederholte er atemlos, «die ganze Nacht.»
    «Ihr werdet jetzt nicht von Unzucht sprechen, Weddemeister, das ist ein hässliches Wort. Stellt Euch einfach vor, Marie musste gestern besonders lange arbeiten, weil so viele Kranke meine Hilfe brauchten. Ihr wisst selbst am besten, wie gefährlich die Straßen nach Sonnenuntergang sind. Ich konnte sie, eine wehrlose junge Frau, doch nicht in der Dunkelheit nach Hause schicken. Leider müsst Ihr Eure Schuldige anderswo suchen.»
    Wagner glaubte kein Wort. Wäre er nicht so wütend gewesen, hätte er eine gewisse Bewunderung für die kühle Gelassenheit, mit der der Chirurg so offensichtlich und unverfroren log, kaum verhehlen können. Aber noch war nicht alles verloren, eines würde Pullmann kaum zugestehen. «Und die Flecken?», trumpfte er auf, «die Schramme? Dann seid Ihr auch dieser, wie sagtet Ihr?, dieser
heftige
Verehrer?»
    Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Welt still zu stehen. Pullmanns Brauen hoben sich, Marie hielt den Atem an, als sie sich seinem Arm entziehen wollte, hielt er sie wieder fest.
    «Ja», sagte er leichthin, «ja, das bin ich. Nehmt die Lüge als Beweis der Wahrheit. Ich gerate wie viele ruhige Menschen hin und wieder unversehens in Zorn. Marie hat eine Flasche zerbrochen, eine teure Flasche mit geschliffenem Stopfen. Da ist mir die Hand ausgerutscht. So einfach ist es. Und nun, Weddemeister, ist es Zeit für ein spätes Mittagessen. Wollt Ihr uns, da alles aufgeklärt ist, die Ehre erweisen, mit uns zu essen?»
    Das wollte Wagner nicht. Keinesfalls. Als er über die Brücke zurückging, längst nicht so eilig wie auf dem Hinweg,dafür sprachlos und mit mahlenden Kiefern, als er versuchte, die Widersprüche in Pullmanns Worten zu sortieren, kreiste eine Möwe über seinem Kopf. Ihr schriller Schrei klang wie Hohngelächter in seinen Ohren. Er sah ihr wütend nach, sah sie auf dem First des Chirurgenhauses landen und wünschte sich brennend, an ihrer Stelle zu sein. Sie sah, was er sicher zu wissen glaubte, was er zu sehen wünschte. Alles, nur kein in trauter Umarmung auf der Bank sitzendes Paar. Und warum waren ihr Tränen in die Augen gestiegen, als sie sich zuletzt an ihn lehnte? Warum? Diese ewige Heulerei. Er würde das nie verstehen. Wozu sollte das gut sein?
    Das eintönige Läuten der Totenglocke von St.   Michaelis klang über die Dächer und das Wasser. Viktor Malthus wurde zu Grabe getragen. Schwer atmend blieb er stehen, nahm den Hut vom Kopf und drückte ihn an die Brust. «Verdammt», fluchte er plötzlich und schrie: «Verdammtverdammtverdammt.» Die Welt geriet aus den Fugen. Wenn nun schon studierte Männer, gar ein Mitglied der Garnison, für ihre nichtsnutzigen Mägde logen, so unverfroren logen – wohin sollte das

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