Der Tote im Eiskeller
aber das könne sie nicht. Sie verlöre dann ihre Arbeit, und es gebe eine Aufgabe, ein Versprechen, das sie noch zu erfüllen habe.
«Und nun ist er dort und hat niemanden mehr», schloss Maline. «Niemanden als mich.»
Der Chor der Glocken, die sonntagmorgens um fünf Uhr zu den ersten Predigtgottesdiensten in den Hauptkirchen riefen, weckte Rosina aus bleiernem Schlaf. Es war ein mehrstimmig versetzter Chor. Nicht nur weil jede Glocke anders klang, sondern auch weil jede der Kirchturmuhren auf ihrer eigenen Zeit bestand, die mit keiner der anderen genau übereinstimmte. An gewöhnlichen Tagen liebte Rosina den Klang der Glocken. Er flog frei und weit über die Stadt, wenn der Wind günstig stand, sogar über den Fluss. Die Macht der bronzenen Stimmen klangen ihr nie als Mahnung oder gar Drohung, für sie bedeuteten sie die Geborgenheit der Stadt, nach der Wanderschaft auf den gefahrvollen Straßen einen sicheren Hort.
An diesem Morgen spürte sie davon nichts. Das Graudes Tages kroch gerade erst müde durch das Fenster, umrahmte die dunkle Silhouette Malines, die am Tisch saß und bewegungslos hinausstarrte.
«Es wird Tag», sagte Rosina. Besseres fiel ihr nicht ein.
«Ja», Maline drehte sich nicht um, «es wird Tag. Ich hatte gehofft, er kommt nie.»
Der Morgen war kalt, als wolle er an den Winter gewöhnen. Rosina schlug fröstelnd ihre Decke zurück und glitt vom Bett.
«Er kommt immer», murmelte sie und dachte, auch an einem solchem Tag sei die Rückkehr des Lichts eine Hoffnung gegen die Dunkelheit. «Warum hast du mich nicht geweckt?»
Endlich wandte Maline sich zu ihr um, ihr Gesicht war im diffusen Licht der Dämmerung nur ein Schemen. Rosina erinnerte sich an die marmorne Maske, die sie gestern vor Hannes Schuppen gesehen hatte, und wusste, wie es aussah.
«Wozu hätte ich dich wecken sollen? Und warum so früh? Willst du den Glocken folgen und für Hanne beten?»
Es klang nur bitter, doch Rosina spürte die darunter verborgene Wut und verzweifelte Hilflosigkeit.
«Das ist kein schlechter Vorschlag», sagte sie, «aber das muss warten. Wir gehen jetzt zur Fronerei. Sofort. Oder willst du sie dort allein lassen?»
«Sie werden es nicht erlauben.»
«Hanne zu sehen? Ihr eine warme Decke und etwas zu essen zu bringen, das diese Bezeichnung verdient? O doch, Maline, sie werden es erlauben, und wenn nicht …» Sie verschluckte den Rest der Worte und beugte sich über die Waschschüssel. Malines Lippen hatten sich aufeinander gepresst, das hatte sie sehr wohl gesehen, und sie wusste, was Maline dachte: Rosina kennt den Feind, den Weddemeister.Sie ist vertraut genug mit ihm, dass er ihr die Tür zum Kerker öffnet.
Es stimmte. Und es war gut. Heute war es sogar sehr gut. Zu dieser frühen Stunde waren die Straßen noch fast leer. Die Kirchgänger waren hinter den breiten Portalen verschwunden und lauschten auf die Worte der Pastoren, nur ein paar Kinder strolchten um die Ecken, und aus einem geöffneten Fenster in der Großen Johannisstraße klangen die sirrenden Töne eines Spinetts. Je näher sie der Fronerei kamen, umso mehr beschleunigte sie ihre Schritte. In Rosinas Korb stand ein Krug frischer sahniger Milch von den Elbinseln zwischen einem noch warmen Brot, einem Stück gekochtem Rotweinschinken, drei Eiern und einigen Äpfeln. Maline trug Helenas warme Decke und drei Kerzen. Sie würden die Wachen in der Fronerei schon davon überzeugen, Hanne für die Nacht die Kerzen anzuzünden. Wagner würde sie überzeugen. Daran zweifelte Rosina keinen Augenblick. Maline schwieg, und Rosina störte sie nicht in ihren Gedanken. Es gab nichts Tröstliches zu sagen.
Die Wachen ließen die beiden Frauen, von denen eine energisch verlangte, die Gefangene zu sehen, nicht einmal über die Schwelle. Ihre Forderung, den Weddemeister zu holen, parierten sie mit Gelächter. Dass Wagner so früh noch nicht in der Fronerei war, hatte Rosina nicht bedacht. Sicher saß er mit Karla im ersten Gottesdienst, wie es sich am Sonntagmorgen für einen Diener der Stadt gehörte.
«Ich bin sicher, er wird bald hier sein, um sechs ist der Gottesdienst zu Ende», sagte sie. «Komm mit, Maline, bis dahin weiß ich ein Fenster, dort kann Hanne uns wenigstens hören.»
Es war einige Jahre her, seit Rosina zum ersten und bis heute auch um letzten Mal vor diesem Fenster gehockthatte. Damals hatte Jean im Kerker gesessen, ihr Prinzipal, der sie einst als verlorenes Kind von der Straße gerettet hatte, und sie war von
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