Der Tote im Eiskeller
seiner Unschuld überzeugt gewesen.
Heute war alles anders. Heute gab es nur eine Gewissheit, die keinen Raum für Hoffnung ließ. Das ‹Fenster› war ein vergittertes Loch kniehoch über der Erde in der Rückwand der Fronerei. Ein Luftloch für den Kerker, mehr nicht.
«Hanne», rief Maline leise, und als sie ohne Antwort blieb, noch einmal: «Hannchen. Ich bin’s, Maline.»
«Ruf lieber nicht noch einmal», flüsterte Rosina. «Sie hatte eine schwere Nacht, sicher schläft sie nun. Wenn der Weddemeister kommt, ist es früh genug, sie zu wecken.»
Endlich kam Wagner. Nur ein Stündchen, hatte er Karla versprochen, als der Gottesdienst aus war, nur ein Stündchen wolle er in dieser wichtigen Angelegenheit in die Fronerei. Dann werde er nach Hause eilen und sie zu einem Spaziergang vor die Wälle führen. Ihr Vorschlag, durch die Malthus’schen Gärten am Gänsemarkt zu spazieren, hatte ihm nicht gefallen. Er sah Rosina und Maline auf der Bank vor der Fronerei sitzen und wusste, aus dem Stündchen würden wieder mal zwei werden.
«Guten Morgen, Weddemeister», sagte Rosina.
Er war ihr dankbar für die amtliche Anrede vor seinen Untergebenen und einer Fremden, die zudem die vertrauteste Freundin einer Mörderin war. Auch er hatte die halbe Nacht gegrübelt und beschlossen, dieses Geständnis als das zu nehmen, was es war: Das Geständnis, auf das er gewartet hatte. Trotzdem hatte er sich selten so wenig gefreut, Rosina zu sehen.
«Ihr wollt die, nun ja, die Gefangene besuchen», stellte er fest. «Das ist eigentlich nicht erlaubt, nicht so früh, besonderswenn die Verhöre noch nicht abgeschlossen sind. Aber in Anbetracht», er stöhnte leise, zog sein großes blaues Tuch aus der Tasche und wischte sich umständlich die Stirn, «in Anbetracht der – ja, in Anbetracht.»
Der Gang zum Kerker war dunkel, als sei es noch Nacht. Wagner hatte eine Kerze mitgenommen, ihre zitternde Flamme warf vage Schatten auf die grob verputzte Wand. Vor der dritten Tür aus schwarzen Eichenbohlen blieb er stehen, nestelte an dem großen Bund, steckte endlich den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Er schob die schwere Tür auf, trat zur Seite und ließ Maline und Rosina eintreten.
Hanne lag in Rutgers Jacke und von Malines wollenem Tuch bedeckt im Stroh und sah aus, als schlafe sie. Maline beugte sich hinunter, strich ihr zärtlich über die Stirn – und fuhr mit leisem Schrei zurück. An Hannes Mund und Hals, an ihrer Bluse klebte Blut, ihre Stirn war kalt, und sie atmete nicht. Hanne war tot. Sie war im Kerker gestorben, wie der Mann, den sie geliebt hatte.
Es kostete Rosina all ihre Kraft, Maline zurückzuhalten. Stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, stürzte sie auf Wagner zu, schlug und trat um sich, stemmte sich gegen Rosinas Umklammerung, bis sie mit einem verzweifelten Aufschrei nachgab und zu Boden sank.
«Geht weg», schrie sie. «Starrt sie nicht an, reicht euch nicht, dass sie tot ist? Das wolltet ihr doch? Eine tote Mörderin. So geht doch endlich weg.»
Rosina schob den wie versteinert stehenden Wagner zur Tür und in den Gang, dann drängte sie sich an ihm vorbei und rannte, ohne die verblüfften Wachen zu beachten, hinaus auf den Platz. Ihr Hals schien zugeschnürt, sie blieb nach Luft ringend stehen und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Regen! Wenn es doch nur regnete undalles fortschwemmte. Den Schmutz. Das elende Leben. Den Tod.
Was sollte sie nun tun? Wann hatte sie sich je so klein und verzagt gefühlt? Ein Schluchzen saß in ihrer Kehle, steckte fest wie ein schon lange nagender Schmerz. Sie stand nur da, kümmerte sich nicht um die Menschen, die auf ihren Sonntagmorgengängen den Platz vor der Fronerei überquerten und sich nach der Frau umsahen, die auf der Straße stand und nichts und niemanden zu sehen schien.
Sie sah wirklich niemanden, bis sie plötzlich ein Gesicht entdeckte, eine schlanke, hoch gewachsene Gestalt im Reitmantel, die ihr Pferd über den Platz führte. Ein Mann mit weichem dunkelblondem Haar … Und da rannte sie schon, überlegte keine Sekunde, ob sie auch dieses Mal nur einem Wunschbild folgte. Sie rannte, und er hörte ihre Schritte, er drehte sich um, und sie lief in Magnus’ weit geöffnete Arme. Endlich lösten sich ihre Tränen, sie weinte und weinte und wusste nicht, warum. Um Hanne. Um Malines Kummer. Um ein verlassenes Kind. Um die ganze traurige Geschichte. Vor Erleichterung, selbst wieder einmal davongekommen zu sein.
Oder einfach, weil Magnus da
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