Der Tote im Eiskeller
nicht, was er glauben sollte. Oder glauben wollte. Er war selbst in diesem Eiskeller gewesen, er wusste, dass es auch für eine Frau mit so dünnen Armen möglich war, den Balken der unteren Tür vorzulegen. Der obere war schwerer und auch nur mit Kraft und Mühe in die engere Halterung zu schieben. Aber der, er erinnerte sich genau an die Aussage der Zofe,war nicht vorgelegt gewesen. Immer noch argwöhnte Wagner, diese ganze Geschichte sei nur ein Märchen, um den Grönlandfahrer zu schützen. Diesen Schwarzbärtigen, dem er eine solche Tat sofort und ohne zu zögern zutraute. Wegen Spadenland, wegen des amputierten Arms seines Freundes und – vielleicht – um für seine Freundin Rache zu üben.
Aber da irrte Wagner. Rutger Ermkendorf, so würde er später erfahren, hatte von alldem nichts gewusst. Während des stürmischen Abends war er im Haus des Wasserschouts zu Gast gewesen und dort, als der Sturm bedrohlich wurde, bis zum Morgen geblieben. Anders als das Zeugnis der offensichtlich kapriziösen Madame Hecker zweifelte Wagner das eines amtlich bestellten Schouts nicht an.
Die Anwesenheit Rosinas und dieser anderen Frau, die er nicht kannte, ignorierte Wagner. Er hatte Rosinas Blick gesehen, er hätte ihr trotzdem gerne Fragen gestellt, doch das war nun, vor den Augen der Soldaten und der wachsenden Zahl der Zuschauer, nicht angebracht. Diese Elendsgestalten aus den umliegenden Gängen waren ihm Bedrohung genug. Trotz der Gewehre seiner Wachsoldaten. Er wollte nicht noch mehr Tote.
Als er genug gehört hatte und das Publikum unruhig zu werden begann, nahm er beide mit, Hanne und den Grönlandfahrer. Anderes wäre auch nicht gelungen. Rutger ließ Hanne nicht los, er wickelte sie in Malines Tuch und seine Joppe und trug sie, die Soldaten mit ihren Gewehren im Rücken, quer durch die Stadt bis zur Fronerei. Dort schickte Wagner ihn weg.
Madame Regina hatte aus einem der Fenster in der oberen Etage zugesehen, sie hatte nicht alles verstehen können, aber genug. Sie sah zu, wie Hanne verschwand, und starrte noch lange hinaus in die Nacht. Dann schloss sie das Fenster.
Maline nippte, beide Hände um den heißen Becher geschlossen, still an ihrer Schokolade. Es war ihre Ruhe, die Rosina beunruhigte. Aber was sollte sie nun sagen? Was tun?
Da fiel ihr ein, dass Hanne schwanger gewesen war. Was war aus dem Kind geworden?
«Hannes Kind», fragte sie leise, «lebt es noch?»
Maline nickte zögernd. Sie blies in ihre Schokolade und nickte noch einmal. «Ja, das Kind ist gesund. Vor allem seinetwegen hat Hanne mich gebeten zu kommen. Nein,
nur
wegen des Kindes. Es lebt jetzt in guter Obhut bei einer großherzigen alten Frau.»
«Matti», begriff Rosina plötzlich. «Jetzt verstehe ich, wieso du Matti kennst. Es ist dort, nicht wahr? Ich habe es gesehen.»
«Ja, bei der Hebamme auf dem Hamburger Berg. Es kann dort nicht bleiben, aber noch einmal, seit sie Wille getroffen hatte, hatte Hanne Glück. Für ihren Sohn. Dieser verdammte Wille war kein Glück. Er war ihr Unglück.»
Wieder verkroch sie sich in brütendem Schweigen.
«Erzähl», sagte Rosina. «Erzähl mir von Hannes Kind. Vielleicht fällt uns eine Lösung ein.»
Maline stellte den Becher auf den Tisch, lehnte eine ihrer Zeichnungen dagegen, das schmale Gesicht einer jungen Frau unter dünnem blondem Haar, und begann.
Eines der Mädchen, die für Madame Regina arbeiteten, wusste von einer Hebamme, die anders war als die anderen. So kam Madame Matti, wie die Frauen sie nannten, vom Hamburger Berg in die Stadt und half Hannes Sohn in die Welt. Nicht in diesem Stall, für eine Woche erlaubte Madame Regina ihrer Nichte, in einem der Zimmer unter dem Dach zu wohnen. Dann kehrte Hanne mit ihrem Sohn in den Stall zurück. Es war fast Sommer und, obwohles viel regnete, schon warm genug. Wenn sie in die Malthus’schen Gärten ging, erlaubte Elias ihr, das Kind mitzubringen. Hanne empfand das als Glück. Beinahe war es ein schöner Sommer.
Der kleine Wille war ein stilles Kind, und sosehr Hanne sich bemühte, er blieb dünn, und seine Haut wurde schuppig. Wieder half Matti. Sie nahm ihn auf, um ihn gesund zu pflegen. Auch Hanne müsse dort weg, sagte sie, sie müsse sich einen anderen Platz zum Leben suchen. Dann seufzte sie grimmig und schwieg. Matti kannte die Welt und wusste, dass es keinen anderen Platz gab. Für einige Wochen könne auch Hanne bleiben, bot sie an und war erstaunt, als die sich höflich bedankte und sagte, nichts wünsche sie sich mehr,
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