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Der Tote im Eiskeller

Der Tote im Eiskeller

Titel: Der Tote im Eiskeller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Dämmerlicht ein großer runder Fleck in tiefroter Farbe. In Scham und Entsetzen wandte er den Blick ab, sah dem Mann, den er sehr wohl erkannte, ins Gesicht und zog scharf die Luft ein. Dort, wo seine Ohren, bescheidene menschliche Ohren, ihren Platz hatten, hingen borstige Schweinsohren.
    «Tot», schnaufte der Schmied vom Pferdemarkt in die Stille. «Hecker is tot, keine Frage.»
    Das Aschenmädchen der Matthews kicherte nervös, eine andere Stimme, sie gehörte einer Zwiebelverkäuferin aus Bardowick, murmelte etwas von der Sittenlosigkeit der Stadtleute. Und mitten hinein in die nun aufbrandenden Mutmaßungen, auch ein Besuch des Teufels während der vergangenen Nacht wurde als Erklärung für dieses unerhörte Ereignis erwogen, mitten hinein dröhnte plötzlich kurz und heftig ein rülpsender Schnarcher.
    Wilbur Hecker war nicht tot. Aber als er gleich darauf erwachte und sein Bewusstsein sich den Weg durch den Nebel in seinem Kopf gekämpft hatte, als er in die Gesichter sah, eine ungewohnte Kälte am Unterleib spürte und endlich begriff, hätte er zum ersten Mal in seinem behaglichen Leben nichts dagegen gehabt.

KAPITEL 2
    September 1771
    Das Licht des späten Nachmittags, matt und golden wie ein Vorbote des nahen Herbstes, verwandelte die verwüsteten Marschen zu einer Landschaft von bizarrer Schönheit. Anstatt der Gerüche warmer spätsommerlicher Äcker und Wiesen und frischen fließenden Wassers trieb der sanfte Wind die Ausdünstungen von Morast und Brackwasser heran, von verwesendem Fleisch und verfaultem Fisch. Wo gewöhnlich der Flickenteppich von fetten Weiden, Äckern und Gärten sein Gelb, Braun und Grün ausbreitete, lagen klebrig-nasser grauer Sand, zu wirren Haufen zusammengeschobener Unrat, entwurzeltes Gesträuch, zwischen sterbenden Bäumen von der Flut zerdrückte und auseinander gerissene Schuppen, Ställe und Katen. Selbst von den festeren Häusern waren viele nicht mehr bewohnbar.
    Die eigentümliche Stille, die oft auf ein großes Unglück folgt, wurde nur von den Schwärmen der Krähen und Möwen durchbrochen, wenn sie sich mit Gekrächz und schrillem Geschrei um Beute stritten. Hin und wieder auch von einem zornigen menschlichen Schrei, wenn jemand die Kraft erübrigte, die gierigen Fresser für einen kurzen Moment aufzuscheuchen. Die Vögel schienen groß und siegreich, unbeirrbar wie die nun wieder in trügerischer Trägheit in ihren Betten dahinfließenden Wasser. Die Menschen hingegen wirkten in dieser Wüstenei wie müde Ameisen. Einige suchten noch Reste ihrer Habe. Die meisten mühten sich, mit Händen und Schaufeln ihre immerwieder im Morast einsinkenden Karren mit Unrat und den Kadavern ertrunkenen Viehs und Wildgetiers zu beladen. Andere schoben den schlammigen Sand und alles was die große Flut sonst noch zurückgelassen hatte, aus den Dielen ihrer Gehöfte.
    Als die Pferde endlich wieder trockenen Grund unter den Hufen spürten und kräftig anzogen, sagte der Kutscher: «Es ist eine Schande. Dieser Deichbruch ist eine echte Schande. Die Leute in der Stadt meinen, die Wühlmäuse waren schuld, aber das sind nur dumme Kreaturen. Wühlmäuse wühlen. Was sonst? Und abgesoffen sind die sowieso zuerst. Ich sage, der Vogt ist schuld. Die Flut war wochenlang vorauszusehen, und als sie näher kam, da ist er die Deiche abgegangen und hat befunden, dass keine Gefahr besteht. Ein Vogt, der nicht sieht, dass die Wühlmäuse im Deich sind, ist schuld, wenn der bei Hochwasser bricht.»
    Er blickte die junge Frau, die neben ihm auf dem Bock saß, erwartungsvoll an. Vergeblich, auch diesmal antwortete sie nicht. Sagte kein ‹Tatsächlich?›, kein ‹Wie Recht Ihr habt›, sie nickte ihm nur mit ihrem schmalen Lächeln zu, das immerhin, und es war bei aller Sprödigkeit doch ein hübsches Lächeln.
    Als die Kutsche nach der Überquerung der Elbe bei Zollenspieker von der Fähre gerollt war und die Reisenden wieder ihre Plätze einnahmen, hatte sie gefragt, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Sie sei so neugierig auf die große Stadt und könne den Anblick kaum erwarten. Ihm war es recht gewesen und dem Postillion auch. Die Kutsche war ein einfaches Gefährt, schlecht gefedert, die Bänke nur mit durchgesessenem Stroh gepolstert, doch der Postillion war müde wie die Pferde und tauschte gerne für ein Weilchen den Platz im Staub gegen einen im Wagen. Ins Hornkonnte er auch zum Fenster hinaus blasen. Oder sich, wenn die Stadt nah genug war, auf eines der Pferde schwingen. Das tat er immer

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