Der Tote im Eiskeller
und zog an den beiden Brüdern vorbei. Das Wappen auf dem Schlag wies sie als eine der Hochfürstlich Braunschweigisch-Lüneburgischen Post aus. Der Postillion saß auf einem der beiden vorderen Pferde. Er hatte sich keine Zeit genommen, den Sattel aufzulegen, er war daran gewöhnt und sah aus, als sei er eins mit dem Tier. Die vier muskulösen Braunen waren schweißnass. Die Straße von der Elbfähre beim Zollenspieker war erst seit kurzem wieder befahrbar; immer noch machte der aufgeweichte Grund das Vorwärtskommen schwer, nur das letzte Stück, eine Viertelmeile vielleicht, war schon von spätsommerlichem Staub bedeckt.
Auf dem Bock neben dem Kutscher saß eine schmale, trotz des warmen Wetters dunkel und bis unter das Kinn hochgeschlossen gekleidete weibliche Gestalt. Sie hielt eine Tasche aus dunkelrotem Samt fest auf dem Schoß, saß kerzengerade und passte sich doch leicht und geschmeidig dem Schaukeln des schweren Gefährts an, als wäre sie eine so erfahrene wie gute Reiterin. Sie musste auch eine gute Tänzerin sein.
«Das Mädchen hat Mut», rief Viktor lachend durch das feine Tuch, das er sich gegen den aufwirbelnden Staub vor den Mund hielt, «das Reisen auf dem Kutschbock ist kein Vergnügen.»
Als die Kutsche die beiden Männer am Straßenrand passierte, sah sich die junge Reisende nach ihm um, und ihre Blicke trafen sich. Er salutierte auf eine fast private Weise,als grüße er auf dem Spazierweg auf den Wällen eine ihm gut bekannte Dame. Aber sie lächelte nicht, winkte auch nicht zurück, kokett und im Davoneilen nichts wirklich versprechend. Sie hielt nur für diesen kurzen Moment seinen Blick, bis der Staub die Kutsche wieder verschluckt hatte. Und er das Gesicht unter der grauen Haube schon wieder vergessen hatte.
«Nun komm, Elias», sagte er und klopfte flüchtig Staub von Dreispitz und Rock. «Das Tor wird gleich geschlossen.»
Er schnalzte leise, drückte seinem eleganten Apfelschimmel die Fersen in die Flanken und machte sich, ohne seinen Bruder weiter zu beachten, auf den Heimweg. Elias würde ihm folgen. So war es immer gewesen, jedenfalls früher, als sie noch Jungen waren. Viktor, der ältere, gab den Ton an, Elias, der jüngere, folgte. Das war nur natürlich, warum sollte es jetzt anders sein.
Als Viktor das leise Schnauben des Pferdes seines Bruders hinter sich hörte, lächelte er. Hätte er sich nach ihm umgedreht, hätte er das vielleicht nicht getan.
Elias Malthus galt als ruhiger, bedächtiger Mann. Niemand konnte sich erinnern, ihn je in einen lauten Streit, gar in eine Schlägerei verwickelt gesehen zu haben. Ebenso wenig fiel jemandem ein, ihn ängstlich oder gar feige zu nennen. Der junge Malthus, sagten die Leute und meinten damit auch nach dessen unvermuteter Rückkehr niemals Viktor, sondern einzig Elias, ist eben ein friedfertiger Mensch.
Als Elias seinem Bruder nun nachritt und auf dessen breite gerade Schultern in dem makellosen, mit einer weißen Schärpe geschmückten Uniformrock der Hamburger Garnison blickte, auf die selbstbewusste Haltung, die entspannt am Knauf des Offiziersdegens liegende linke Hand,sah er keineswegs friedfertig aus. Seine um die Zügel geballten Fäuste, der dunkle Blick verrieten alles andere als brüderliche Liebe und Verbundenheit.
Als Jungen hatten Viktor und Elias Malthus einander so sehr geglichen, dass selbst die Nachbarn sie kaum zu unterscheiden wussten, wenn einer der beiden an ihnen vorbeiflitzte: das blonde Haar, die hellen Augen, die staksigen Glieder. Vielleicht war Viktor, der um zwei Jahre ältere, ein wenig schneller, auch verwegener. So jedenfalls war die allgemeine Meinung, als er, kaum fünfzehn Jahre alt, an einem kalten Märztag mit der einsetzenden Dämmerung aus dem elterlichen Haus und durch das Millerntor aus der Stadt verschwunden war. Zu jener Zeit wurden die beiden Brüder kaum mehr verwechselt, obwohl sie einander auf den ersten Blick immer noch sehr ähnlich gesehen hatten. Während Viktor seinen kindlichen Übermut, seine schnelle Bereitschaft zum Zorn noch nicht abgelegt hatte, war Elias schon über seine Jahre hinaus vernünftig gewesen. Viktor träumte von den Abenteuern der weiten Welt, Elias stellte sich niemals ein anderes Leben als das von der Familientradition bestimmte vor. So war er Gärtner und Kaufmann geworden, und die weitesten Reisen, die er je gemacht hatte, hatten ihn ins Holländische und ins Württembergische geführt. Zu anderen Gärtnern und Kaufleuten. Seit dem plötzlichen Tod des
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