Der Tote im Eiskeller
eingesperrt, sodass er erfrieren musste. Jemand hat Euren Bruder ermordet. Und Ihr werdet mir sagen können, wer ihn genug – und warum – gehasst hat, das zu tun.»
Elias Malthus schob seinen Stuhl zurück, nahm die Wasserkaraffe von der Fensterbank und füllte ein Glas. Er trank einen Schluck, betrachtete das Gefäß, als sei es kunstvoll geschliffen und nicht aus dickem billigem Material, trank noch einmal und stellte es auf den Tisch.
«Verzeiht», sagt er dann, füllte ein zweites Glas und reichte es Wagner. «Ihr müsst durstig sein», murmelte er. Er sah zu, wie Wagner trank, und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. «Ich würde Euch gerne etwas über meinen Bruder sagen. Doch wenn er auch mein Bruder ist, weiß ich wenig über ihn. Getötet, sagt Ihr? Seid Ihr sicher? Sieht ein Unglück nicht oft nur so aus? Womöglich ist er gestolpert,mit dem Kopf auf das Eis geschlagen – das ist mir selbst schon passiert. Das Eis ist hart wie ein Fels, ich hatte Glück, ich war nicht allein.»
«Hin und wieder sieht ein Unglück so aus, ja, auf den ersten Blick. Euer Bruder allerdings ist, wie ich eben schon sagte, eingesperrt worden. Die beiden Türen zu diesem Keller öffnen sich nach außen, und sie haben an der Außenseite Balken, um sie fest in den Rahmen zu halten. Damit möglichst wenig warme Luft eindringt. Jemand hat den Balken vorgelegt, von außen. Dass das aus Unachtsamkeit geschah, ist unwahrscheinlich. Denkt Ihr nicht auch?»
Elias Malthus stand auf. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und sah hinaus. «Was hat er dort nur gemacht?», murmelte er. Durch das leicht geöffnete Fenster drang von der Alster das Geräusch von Ruderschlägen herein, als eine Frauenstimme übermütig lachte, schloss Malthus das Fenster mit einer plötzlichen Heftigkeit, die seine unbewegte Haltung Lügen strafte.
«Ich weiß, es ist jetzt nicht der rechte Moment», sagte Wagner, «Ihr seid erschüttert. Wenn Ihr mir trotzdem sagen könntet, ob es jemanden gab, mit dem Euer Bruder im Streit lag? Oder hatte er Schuldner? Vielleicht auch selbst Schulden, die er versäumt hat zurückzuzahlen? Oder, nun ja, er war ein noch junger Mann und, wie ich gehört habe, von einigem Temperament. Vielleicht gab es eine unpassende Liebschaft und …», er hüstelte umständlich, «… einen betrogenen Ehemann?»
Elias Malthus setzte sich wieder und schüttelte unwillig den Kopf. «Von Schulden weiß ich nichts, und ich bin sicher, ich wäre der Erste gewesen, den er um Hilfe gebeten hätte. Mag sein, dass er in der Vergangenheit Liebschaften hatte, wie Ihr es nennt, aber sicher nicht mehr in den letzten Monaten. Viktor ist – er war verlobt», erklärteer auf Wagners zweifelnden Blick, «noch nicht ganz offiziell, doch der Vormund des Mädchens hatte schon sein Einverständnis erklärt, und das ist allgemein bekannt. In unseren Kreisen. Viktor war nicht dumm genug, eine so», er suchte stirnrunzelnd nach dem richtigen Wort, «eine so günstige wie gesellschaftlich passende Verbindung durch ein törichtes Abenteuer zu gefährden. Damit hätte er bis nach der Hochzeit gewartet.» Er fuhr sich unwillig mit der Hand über die Lippen. «Vergesst die letzte Bemerkung. Mein Bruder war kein leichtfertiger Mensch. Treue galt ihm viel. Er war beliebt und geachtet, sein Tod kann nur ein Irrtum sein. Jemand muss ihn verwechselt haben. Oder er hat Diebe überrascht, die Eis stehlen wollten. Wir haben gerade frisches bekommen, das lässt sich gut verkaufen, besonders am Ende des Sommers, wenn die Vorräte verbraucht oder geschmolzen sind. Nein», er erhob sich abrupt und sah zornig auf Wagner hinab, «ich glaube etwas anderes. Diese Überfälle während der letzten Wochen. Es hieß immer, es sei nur Glück, dass keiner der Männer getötet worden ist. Ich hielt das auch nur für eine Frage der Zeit, und nun, Weddemeister, nun ist es geschehen: Einer ist getötet worden. Ein ehrbarer Mann. Mein Bruder. Weil die Wachen in unserer Stadt unfähig sind, solche Lumpen zu schnappen.»
Elias Malthus’ Stimme war mit jedem Satz lauter geworden. Wagner schnaufte schwer und verschränkte heftig die Arme vor der Brust. «Ich bin sicher, Monsieur, dass das andere sind», erklärte er alle Würde zusammenkratzend und stand auf. Was leider nur wenig nützte. Elias Malthus war ein großer Mann, auch jetzt musste Wagner noch zu ihm aufsehen. «Diese Lumpen sind ganz andere», erklärte er, und es gelang ihm, fast so kalt zu blicken wie sein Gegenüber.
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