Der Tote im Eiskeller
Dann traf JeanMaline am Morgen ihrer Abreise auf dem Markt, was gewiss nur ein Zufall war. Sie hatte ihm von einer Laterna magica erzählt, die sie bald besitzen werde. Jean war begeistert gewesen. Die Zauberlaterne war auf vielen Jahrmärkten die Attraktion, sie füllte selbst dort die Buden, wo die Komödianten nur wenig Applaus fanden. Erst kürzlich hatte er von dem Wirt eines Leipziger Kaffeehauses gehört, der mit der Zauberlaterne das vornehmste, somit das Publikum mit der dicksten Börse anzog und nun in vierspänniger Kutsche fuhr.
Leider blieb keine Zeit, die Angelegenheit neu zu debattieren, die Wagen waren beladen, die Pferde standen im Geschirr, außerdem war Helena schlechter Laune, weil er am vergangenen Abend der Versuchung eines desaströs endenden Hasardspiels nicht hatte widerstehen können. So hatte er nicht einmal gefragt, woher sie eine so kostbare Maschine bekomme, sondern ihr rasch den Kröger’schen Hof in Hamburg genannt, dort wohne die Gesellschaft für den Herbst, er werde sie erwarten. Sofern sie nicht vor dem Ende der ersten Septemberwoche komme, werde sie die Gesellschaft in jedem Fall dort antreffen, selbst wenn sich auf den Straßen eine Verzögerung ergebe.
Dummerweise hatte er in der Zwischenzeit versäumt, die Neuigkeit bekannt zu geben. Als sich die Wogen geglättet hatten, als die Spielerlaubnis für das Theater ausblieb und die Zauberlaterne zum Einsatz kommen sollte, fiel auch die aus. So sorgfältig Maline die kostbare Gerätschaft auch verpackt hatte, das Gerumpel der schlecht gefederten Postkutsche hatte alles so heftig durcheinander geschüttelt, dass die Linse, das wichtigste Teil der Laterne, zerbrochen war. Maline hatte schnell einen Optiker gefunden, der versprach, eine neue zu beschaffen, aber wie der Schreiner mit dem Holz, ließ er sich Zeitund vertröstete sie Tag um Tag. Eine solche Linse habe er nicht auf Vorrat, sie müsse neu geschliffen werden, was Zeit erfordere, immerhin habe er schon das richtige Glas bekommen, Mademoiselle möge sich gedulden, Qualität erfordere Ruhe. Und ob sie sicher sei, seine Arbeit bezahlen zu können?
So waren diese Septembertage träge dahingeflossen: Ordnung in Utensilien und Kostüme bringen, Texte lernen, die sie erst im Winter beherrschen mussten. Rosina sah sich um und fand alle beschäftigt, sie wurde nicht gebraucht. Unschlüssig, was sie nun tun könnte, verließ sie das Theater, das einmal ein Pferdestall der Dragoner gewesen war, und setzte sich auf die Bank nahe der Pumpe an der Längsseite des Gebäudes. Es erschien ihr seltsam, einfach so dazusitzen und nichts zu tun, als das Gesicht in die Morgensonne zu halten. Sie hörte das Rattern der schwer beladenen Fuhrwerke, die hinter dem Theater auf der unteren Wallstraße zum Millerntor rollten, streitende Stimmen aus der gegenüberliegenden Reihe der Häuser, irgendwo jammerte eine Säge. Ein Schaf blökte angstvoll, das nächste Schlachthaus war nicht weit.
Alles war wie immer, nur die Luft war frischer. Die reinigende Wirkung des großen Regens würde einige Tage anhalten. Nicht einmal der Gestank aus dem Bäckerbreitergang, dem Beginn des alten Gängeviertels, war heute zu riechen. Die meisten Schweinekoben des Bäckeramtes, die früher dort ihren Platz gehabt hatten, waren verschwunden und durch enge, nur zweistöckige Mietshäuser ersetzt worden, doch die verbliebenen reichten gewöhnlich, um mit dem Südwind ihren penetranten Geruch herüberzuschicken. Zum Glück wehte heute ein sanfter Nordwest.
Sie lehnte sich gegen die warme Wand des Hauses, beschirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne undsah einem Reiter nach. Seine breiten Schultern in dem schlichten, doch gut geschnittenen Rock, die langen Beine in kniehohen schmalen Stiefeln, das im Nacken wie üblich zusammengefasste dichte dunkelblonde Haar etwas zu lang – ihr Herz machte einen Hüpfer. Aber nein, sie würde nicht mehr darauf hereinfallen. Schon zweimal war sie, ohne nachzudenken, einer solchen Gestalt hinterhergelaufen, beim zweiten Mal hatte sie wenigstens rechtzeitig, bevor sie einen Wildfremden am Ärmel zog, gemerkt, dass er es nicht war. Magnus war nicht da. Und wenn er es wäre, würde er gleich kommen, er würde nicht in der Stadt herumpromenieren, bevor er sie im Kröger’schen Hof oder hier im Theater gefunden hatte.
«Das würde er nicht», murmelte sie und fand selbst, dass es weniger überzeugt als vielmehr nach einer Beschwörungsformel klang.
Eine sehr schlanke, hoch gewachsene
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