Der Tote im Eiskeller
unter ihre Spielerlaubnis zu setzen, bevor alle Schäden im Theater repariert waren, insbesondere die zerbrochene Brüstung. Das hätte schnell geschehen können, wäre da nicht die lästige, einzig den städtischen Handwerkern dienende Vorschrift gewesen, nach der wandernde Gesellschaften ihr Bauholz bei einem Amtsmitglied kaufen und auch zuschneiden lassen mussten. Der Schreiner, der ihnen in vergangenen Jahren das Holz geliefert hatte, war ein heimlicher Theaterliebhaber gewesen und hätte sie auch ohne die diskret übergebenen Billetts für die erste Vorstellung nie länger als einen oder zwei Tage warten lassen. Leider war er im vergangenen Winter gestorben, wie es hieß, als Folge allzu lustvollen Genusses des zwölfgängigen Weihnachtsfestmahles, was allgemein bedauert wurde. Sein Nachfolger war von übellauniger Natur und verachtete die Künste, das Theater insbesondere, er bewies absolutkeine Eile mit der Lieferung. Titus, dessen Groll ‹auf den nichtsnutzigen Holzwurm› von Tag zu Tag wuchs, war nur mit Mühe davon abzuhalten gewesen, anzuspannen und das nötige Holz im nahen Altona oder Wandsbek zu kaufen, was im besten Fall eine Geldbuße, im schlimmsten die Ausweisung aus der Stadt bedeutet hätte.
‹Macht nichts›, hatte Jean mit heimlichem Triumph gesagt. ‹Dann fangen wir eben klein an. Kleiner Verdienst ist besser als gar keiner. Wir haben ja Maline. Zu unserem Glück. Malines Kunst braucht nur das hintere Zimmer, das ist nur zu putzen, zu reparieren gibt es dort nichts.›
‹Nun ja›, hatte Maline gesagt, ‹das ist auch nicht so einfach.›
Malines Ankunft an jenem milden Abend im frühen September hatte nur kurze Turbulenzen ausgelöst. Nun – zwei Wochen später – hatten sich alle an sie gewöhnt. Sogar Helena. Auch wenn sie Jean noch nicht ganz verziehen hatte, dass er Maline Bernau engagiert hatte, ohne es mit den Mitgliedern der Gesellschaft und zuallererst mit ihr zu besprechen, hatte sie ihren Zorn bald hinuntergeschluckt. Was auch sonst? Maline war da, vom Prinzipal engagiert, und wie sie in der Dämmerung im Tor gestanden hatte, die Kleider staubig und zerknittert, der Blick müde und ängstlich, hätte es eines wahrhaft steinernen Herzens bedurft, sie wieder fortzuschicken.
Dass ihr Empfang Verwirrung auslöste, hatte wiederum Maline verwirrt. Sie hatten einander in Göttingen getroffen. Wenige Tage bevor sie ihre Wagen beluden und weiterzogen, hatte Maline in der schäbigen Absteige, die dort stets ihr Quartier war, angeklopft und gefragt, ob es möglich sei, in die Becker’sche Gesellschaft aufgenommen zu werden. Als Tochter fahrender Komödianten sei sie ihr Leben lang mit kleinen Gesellschaften durch das Land gereist,sogar bis ins Salzburgische und ins Elsass, und scheue keine Arbeit. Für die großen Rollen eigne sie sich nicht, dafür werde in dieser Gesellschaft gewiss niemand Neues gebraucht. Das habe sie während mehrerer Vorstellungen erkannt. Aber ihre Stimme sei passabel, wenn sie auch niemals an die von Mademoiselle Rosina heranreiche, sie tanze recht manierlich und habe einige Fertigkeiten mit den Jonglierbällen, verstehe sich auf die Arbeit mit Nadel und Faden. Seit zwei Jahren führe sie den Haushalt eines Optikers, doch nun wolle sie zu den Komödianten zurückkehren, denn das sei ihre wahre Profession
Sie hatte ihren Vortrag, es war wahrhaftig einer gewesen, mit einer Eloge auf das tief bewegende Spiel der Becker’schen Komödianten beendet, der Jean sofort von ihren Qualitäten, die sie gleichsam unverzichtbar für die Gesellschaft machten, überzeugt hatte. Helena nicht. Was Jean als ehrenwerte Bescheidenheit bezeichnete, empfand sie als trickreiche Schliche und Schmeichelei. Und wie könne eine Wanderkomödiantin den Haushalt eines Optikers führen? Das müsse gelogen sein, kein ehrbarer Mann überlasse einer, die ihr Leben auf der Straße zugebracht habe, sein Haus.
Titus hatte brummend die Unterlippe vorgeschoben, ein Zeichen, dass er die Sache zumindest bedenken wollte, Gesine hatte sich abwartend über ihre Näharbeit gebeugt, und Rudolf hatte gemurmelt: ‹Nun ja, auf ihre Weise ist sie recht hübsch. Das kann nie schaden.›
Eine Weile ging es hin und her, bis Rosina zu bedenken gab, die Gesellschaft habe gerade erst neue Mitglieder aufgenommen, ein weiteres werde nicht gebraucht und – das vor allem – könne bei den zu erwartenden Einkünften nicht bezahlt werden. Selbst wenn die Gage gering sei.
Damit schien die Angelegenheit erledigt.
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