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Der Tote im Eiskeller

Der Tote im Eiskeller

Titel: Der Tote im Eiskeller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Reputation einer Aktrice jedoch kaum verbesserte. War eine, die aus der Geborgenheit einer achtbaren Familie in besten Verhältnissen floh, die eine sichere Zukunft als Gattin und Mutter eines Erben ausschlug, nicht sogar schlimmer als eine, die kein anderes Leben als das der Fahrenden kannte und erreichen konnte? Auf alle Fälle mussten die Töchter im schwärmerischen Alter (die Söhne nicht zu vergessen!) von einer so leichtfertigen Person fern gehalten werden, damit sie nicht auf seltsame Ideen kamen. Es reichte, dass Madame Herrmanns sich hatte anstecken lassen und im vorigen Jahr auf geradezu fluchtartige, auf alle Fälle empörende Weise die Stadt verlassen hatte und erst zurückgekehrt war, als ihr Mann ihr nachreiste. Seltsamerweise wirkten die beiden Herrmanns’ trotz dieser Caprice glücklich. Was man besser totschwieg – sogar gesetzte Ehefrauen, so befürchteten wiederum die Ehemänner, kamen in Zeiten, in denen alle Welt schwärmerische Romane und Traktate las, auf absurde Ideen.
    Rosina kümmerte nicht, ob solche Gedanken nun durch Madame Matthews Kopf gingen. Es reichte, dass sie in ihrem eigenen auftauchten. Sie hatte nie bereut, in jener Nacht in den Hosen eines der Pagen und der alten Joppe eines der Gärtner aus dem Fenster geklettert und in der Dunkelheit untergetaucht zu sein, außer vielleicht in den Stunden des größten Hungers und der Angst während der ersten Tage und Nächte ihrer Reise in das neue Leben. Aber seit einiger Zeit fühlte sie manchmal eine bedrängende Sehnsucht, an einem Ort zu bleiben, endlich wieder Wurzeln zu schlagen. Sehnsucht nach einer behaglichen Wohnung, einem Haus mit festem Dach, eigenen Möbeln und Geschirr, nach dem Gleichmaß der Tage.
    Dieses Gefühl holte sie nicht ein, wie man doch annehmenmüsste, wenn wieder einmal ein Rad brach oder die Wagen im Morast der endlosen Straßen stecken blieben, wenn der Frost schneidend durch die Kleider kroch, wenn die Leute in den Dörfern Türen und Fenster vor ihnen verschlossen. Sie spürte es in Momenten wie diesem. Wenn sie in der Sonne hinter den sicheren Wällen neben Anne saß und deren Vertrauen spürte, wenn sie an milden Abenden durch die Straßen ging und den warmen Schein der Lampen, einen über ein Buch gebeugten Kopf hinter den Fenstern sah, die vertrauten Klänge eines Spinetts oder einer Violine hörte.
    Sie hatte selbst hinter solchen Fenstern gelebt und wusste, dass dort nur selten echtes Glück wohnte. Gewiss keine Freiheit, nicht einmal die der Gedanken. Wohlanständigkeit, die Eingebundenheit in die Gesellschaft der Bürger, das erschien ihr wie ein zu eng geschnürtes Korsett und bot tatsächlich nur scheinbar Sicherheit. Aber vielleicht, das dachte sie seit einiger Zeit immer wieder, konnte man es besser machen. Anders.
    «Rosina?» Sie spürte Annes Hand auf ihrem Arm und kämpfte gegen plötzlich aufsteigenden Groll. Würde eine Madame Herrmanns ihre Freundin bleiben, wenn sie nicht mehr nur für wenige Wochen in der Stadt war und stets wieder verschwand? Würde sie sie mit den anderen Damen zum Tee laden, wenn sie nicht mehr die schillernde Freundin auf der Durchreise war, sondern eine Nachbarin mit fragwürdiger Vergangenheit?
    «Verzeih», sagte Anne, «ich plappere dir von unserem Familienkummer und frage nicht einmal, wie es dir geht. Dürft ihr immer noch nicht spielen? Soll ich Claes bitten   …»
    «Nein.» Rosinas Stimme klang schroffer, als sie beabsichtigt hatte. Dazu gab es keinen Grund. «Nein», wiederholtesie weicher, und der Groll löste sich auf wie Morgennebel in der Sonne. «Leere Wartezeiten gibt es immer wieder. Wir haben in den letzten Wochen recht gut verdient und vorgesorgt. Aber ich hasse diese Warterei, sie macht so träge. Erzähl mir, was wirklich geschehen ist, Anne, der Klatsch von den Straßen ist gewöhnlich nur die halbe Wahrheit. Oder die doppelte. Besonders wenn sie aus dem Mund der Krögerin kommt. Die Phantasie unserer Wirtin ist erstaunlich, sie sollte unbedingt Dramen schreiben.»
    Was Anne nun berichtete, entsprach in etwa dem, was Rosina schon wusste. Nur dass ausgerechnet Mademoiselle Lehnerts Zofe den Toten gefunden hatte, war ihr neu. Und anders als die Alleswisser auf den Straßen war Anne bei der Frage, aus welchem Grund Viktor Malthus ermordet worden war, absolut ratlos.
    «Ich habe die halbe Nacht gegrübelt», erklärte sie. «Hätte man seinen Leichnam irgendwo auf den Straßen oder auf den Wällen gefunden, würde ich mir nicht so viele

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