Der Tote im Eiskeller
förderlich für Ausflüge in ihre Vergangenheit, von der sie ungern sprach, und zu ihrer Erziehung, die sich von Anne Herrmanns’ kaum unterschieden hatte.
«Das ist eine noch längere Geschichte», murmelte sie, «und jetzt gibt es endlich etwas zu essen.»
Sie schob die Tür zum
Bremer Schlüssel
auf, schnupperte sehnsüchtig nach dem guten Duft der Suppen und roch nur Bier, Qualm von billigem Tabak und zu viele Menschen. Obwohl die Kerzen auf den Tischen und an den Wandhaltern nur wenig Licht spendeten, entdeckte sie Jean, Helena und Titus sofort an dem Tisch nahe der Tür zur Küche. Titus stritt, wie gewöhnlich, mit Servatius, dem Knopfmacher aus der Caffamacherreihe, Jean widmete sich ganz einem kleinen Stück Ochsenbraten, nur Helena beobachtete mit Ungeduld die Tür. Sie entdeckte Rosina und winkte mit etwas, das aussah wie ein Brief. Es war – endlich – ein Brief.
Augusta kannte den Abgrund der Trauer. Sie hatte ihre beiden Söhne und ihren Mann verloren und die Betäubung, die Hoffnungslosigkeit und das verzweifelte Gefühl der Schuld der Überlebenden nie vergessen. Es hatte viele Jahre gedauert, bis sie sich wieder erlauben konnte, das Leben als das Geschenk anzunehmen, das es immer noch war, es auch zu genießen und endlich sogar zu ihrer alten Heiterkeit zurückzufinden. Wie dünn diese Decke der Lebensfreude und des Seelenfriedens war, wusste nur sie. Und falls Anne, Claes oder ihre alte Zofe Anneke die von Zeit zu Zeit wiederkehrende, tiefe Melancholie bemerkten, war der Respekt vor Augustas Wunsch, mit der Erinnerung allein zu sein, groß genug, sie das nicht spüren zu lassen. Dafür war sie dankbar, denn sie wusste sehr wohl, dass ihre trüben Tage nicht verborgen blieben, und spürte die heimlichen besorgten Blicke, die kleinen liebevollen Gesten. Auch deshalb hatte sie ihren Entschluss nie bereut, Kopenhagen, wo sie den größten Teil ihres Lebensverbracht hatte, zu verlassen. Vor acht Jahren, bald nach dem Tod der ersten Frau ihres Neffen, war sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um sein Haus zu führen.
Sie war noch sehr jung gewesen, als sie Hamburg verließ. Die Malthus’sche Kunst- und Handelsgärtnerei hatte es auch damals schon gegeben, auch den Garten am Gänsemarkt. Sie erinnerte sich, wie Elias’ und Viktors Großvater die Gärten der reichen Häuser mit Bäumen und Pflanzen beliefert hatte. Ernestine hatte damals noch Steenhof geheißen. Seine Mutter, hatte Elias gesagt, wolle in diesen Tagen allein bleiben und bitte, Besuche für die Zeit nach dem Begräbnis ihres Sohnes aufzuschieben. Augusta hatte es damals genauso gehalten. Aber sie wusste auch, dass es keine quälendere Einsamkeit gab als die nach dem Verlust zutiefst geliebter Menschen. Sie erinnerte sich gut, wie unerträglich es ihr zunächst erschienen war, als eine ihrer vertrauten Freundinnen sich nicht an der Tür des Kjellerup’schen Hauses abweisen ließ und die Mauer ihrer Abwehr durchdrang. Und wie sie sich nach diesem Besuch getröstet gefühlt hatte. Für einige Stunden hatte das Gefühl der Todeskälte sie an jenem Nachmittag verlassen gehabt.
So hatte Augusta sich nach einigem Zweifeln entschlossen und Brooks wissen lassen, er möge anspannen.
«Willst du Madame Malthus besuchen?», hatte Anne gefragt, als sie die Tante ihres Mannes in der Diele traf, im ungewohnt schlichten dunkelgrauen Kleid, einer ebensolchen Haube und einem schwarzen Tuch um die Schultern.
«Ich weiß, was Elias gesagt hat, meine Liebe. Ich weiß auch, was du denkst. Ich gehe trotzdem. Ernestine hat erst vor einem halben Jahr ihren Mann begraben, und nun ist ihr Sohn gestorben, auf so sinnlose, grausame Weise. Die Begegnung mit dem Tod braucht Einsamkeit, Anne. Trotzdem ist manchmal eine Störung – ach, ich weiß nicht, wassie ist. Jedenfalls besser als dieses bodenlose Loch mit seiner erstickenden eisigen Kälte. Jetzt ist auch nicht die übliche Stunde für einen Besuch, schon gar nicht für einen solchen, aber das ist mir nun egal. Wenn man mich nicht einlässt – auch gut, ich will es wenigstens versuchen.»
«Ich wusste nicht, dass du dich ihr so nah fühlst, Augusta.»
«Bis zum Tod ihres Sohnes tat ich das auch nicht. Ich fürchte, die gute Ernestine ist ein dummes Huhn, so langweilig wie ermüdend. Das war sie sogar als Kind. Trotzdem erlebt sie jetzt eine jammervolle Zeit. Damit sollte niemand alleine sein. Auch kein dummes Huhn.»
Augusta war nicht sicher, ob sie Annes rasche Entscheidung, sie zu begleiten,
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