Der Tote im Eiskeller
man sollte sie noch ein halbes Stündchenim seligen Vergessen des Schlafes lassen. Ja, das sollte man. Wenn es Euch recht ist. Ich bin Madame Polter, eine Nachbarin und, das darf ich wirklich sagen, eine Freundin. Was ist das Leben in so schweren Zeiten, wenn das Schicksal zum Hammer greift und erbarmungslos, ja, zuschlägt, was ist es ohne Freunde. Und Freundinnen. Ich hoffe, Ihr werdet mit meiner bescheidenen Gesellschaft vorlieb nehmen, bis die liebe Ernestine erwacht. Es kann nicht lange dauern, gewiss nicht lange. Sie würde mir nie verzeihen, wenn ich so verehrten Besuch wieder gehen ließe. Nein, das würde sie nicht. Natürlich empfängt sie nicht
jeden
Besuch, wahrhaftig nicht jeden, nein, aber Ihr gehört ja beinahe zur Familie. Es ist ein solcher Jammer, die Hochzeit wäre prächtig geworden. Und nun gibt es eine Beerdigung, und in Anbetracht der Umstände kann es nur ein bescheidenes Begräbnis sein, ganz bescheiden. Die arme Ernestine.» Sie schlug aufseufzend die Hände vor ihr Gesicht, leider nur für einen kurzen Moment. «Ich habe geraten, ein wenig Laudanum zu nehmen», die Erwähnung des Opiumsafts ließ sie die Stimme senken, «ein wenig nur, das muss erlaubt sein. Oder ein winziges Krümelchen Bilsenkraut. Aber sie will nicht. Sie ist ein starker Charakter, sie flieht den Schmerz nicht. Nehmt bitte Platz, ich bestelle gleich Kaffee. Oder Schokolade? Ja, Schokolade. Gerade in schweren Zeiten, wenn das Schicksal mit dem … Nun ja, in schweren Zeiten bedarf es auch der leiblichen Tröstungen. Natürlich ebenso der …»
Wessen es weiterhin bedurfte, blieb Augusta und Anne erspart. Madame Polter lief schon die Treppe hinunter, und ihr fortplätschernder Redefluss wurde zum immer leiser murmelnden und endlich versiegenden Bächlein.
«Du meine Güte!» Augusta schwankte zwischen Unmut und Amüsement, und sie begann sich trotzdem besser zufühlen. Unter den Freundinnen, die ihr damals beigestanden hatten, war zum Glück keine ein so dummes Plappermaul gewesen. «Sollen wir die Gelegenheit nutzen und uns gleich wieder verabschieden?»
«Auf gar keinen Fall.» Anne setzte sich auf einen der altväterlichen ungepolsterten Lehnstühle und versuchte sich an einem frommen Gesicht. «Du hast es gehört: Das würde Madame Malthus nie verzeihen, und es wäre schändlich, Madame Polter um den Genuss der süßen leiblichen Tröstung zu bringen. Im Übrigen ist die Gelegenheit mehr als günstig, sie scheint mir genau die richtige Person, um ein bisschen mehr zu erfahren.»
«Über Viktor?»
Rasche Schritte kamen die Treppe herauf, und Anne legte den Finger auf den Mund.
«Und Mademoiselle Lehnert, die liebe Fenna?», plapperte Madame Polter gleich weiter, als habe sie nicht einmal in der Küche eine Pause eingelegt. «Grämt sie sich sehr? Was für eine Frage, natürlich tut sie das. Bei einem solchen Verlust. Es kann keinen Zweiten geben wie den lieben Viktor. Ein so vornehmer Mensch. Und sagt selbst: Gibt es einen, den die Uniform besser kleidet? Und wenn man bedenkt, dass er in Wien der Kaiserin gedient hat. Und dem Kaiser, gewiss, doch zuerst der großen Kaiserin. Auch sie ist eine Mutter, ja, Gott hat sie reich bedacht. Wobei sechzehn Kinder doch ein wenig viel sind. Ich sage immer: Demut und Zurückhaltung. Das ist es, worin wir uns üben müssen. Ja, Demut. Selbst im Angesicht des Todes», erinnerte sie sich wieder an den Grund des Besuches. «Der liebe Viktor, er war immer ein so lebensfroher Mensch.»
Die Hände im Schoß gefaltet, sah sie Anne und Augusta, erst die eine, dann die andere, auffordernd an. Madame Polter, das war deutlich, verstand sich nur theoretisch aufDemut und Zurückhaltung. Sie war geradezu begierig, ausgefragt zu werden und alles zu erzählen, was sie wusste. Und auch, was sie nur vermutete.
«Dann habt Ihr ihn also gut gekannt?»
«Gut gekannt, sagt Ihr, Madame Herrmanns!?» Mit einem Blick zur Decke hob sie seufzend die ausgebreiteten Hände. «Ich kannte ihn schon, als er noch mit Murmeln und Windrädern spielte. Lange bevor er vor vielen Jahren die Stadt verließ. Er war ein hübscher Junge, charmant und höflich. Immer vergnügt, das war er wirklich. Und ungemein hilfsbereit. Niemand hätte gedacht, er könne seinen Eltern solchen Kummer bereiten. Ja», sagte sie, wieder tief aufseufzend, «es sind die Besten, die uns Kummer bereiten, immer die Besten. Umso größer war die Freude, als er zurückkam und es sich zeigte, dass er der Stolz aller Eltern sein konnte.
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