Der Tote im Eiskeller
Anfang, seinem Ende und über den Türen des Tuchladens und des Gürtlers brannte jeweils eine Laterne. Anders als auf dem noch belebten Marktplatz lag die Straße bis auf wenige heimkehrende Menschen schon verlassen. Hinter den Vorderhäusern begann das Labyrinth des Neustädter Gängeviertels, aus schmalen Durchlässen zog der muffig-faule Geruch, der immer entsteht, wenn zu viele Menschen und Tiere mit zu wenig Licht, Luft und Wasser auf zu engem Raum leben. Aus den Gängen drang auch dumpf ein Gewirr von scheinbar fernen Stimmen und Geräuschen, und Rosina wünschte, sie hätte sich früher aus der Behaglichkeit in Mattis Haus verabschiedet.
Zwischen den hohen Wänden begann die Dämmerung schon ins Dunkel zu gleiten, so erkannte sie Maline erst, als sie nur noch wenige Schritte entfernt war. Sie konnte gerade erst aus einem der Gänge getreten sein. Nun stand sie mit geneigtem Kopf vor einer Frau von zierlicher, fast kindlicher Gestalt, neben ihr, Rosina den Rücken zugewandt, ein breitschultriger, mittelgroßer Mann. Er trug keinen Hut, sein dunkles Haar, nur nachlässig im Nacken gebunden, hing kürzer als gewöhnlich über den Kragen. In seiner Rechten trug er einen Knüppel, an die Schulter gelehnt wie ein Soldat sein Gewehr.
Rasch schlüpfte Rosina in den Schatten des steinernen Treppenaufgangs zu einem Kunstblumenladen. Es gab keinen Grund, sich vor Maline und ihren Begleitern zu verstecken, und doch glaubte sie etwas zu sehen, das sie nicht sehen sollte. Sie hielt den Atem an und lauschte. Sie hörte nur ein Murmeln, es klang angestrengt und müde.
Plötzlich erschien es ihr niederträchtig, im Schatten zu stehen und zu spionieren. Zumindest war es töricht. Sie trat auf die Straße, und just, als sie laut hüsteln wollte, verschwanden Malines Begleiter im Dunkel, rasch und geräuschlos, als habe sie die beginnende Nacht ausgelöscht.
«Rosina?» Maline hatte sich umgewandt, presste ihre Zeichenmappe vor die Brust und sah unsicher der näher kommenden Gestalt entgegen. «Ja», sagte sie, «du bist es. Ich war nicht sicher, in diesem Zwielicht ist ein Gesicht leicht zu verwechseln.»
«Selbst für eine so gute Beobachterin wie dich.»
«Beobachterin? Was meinst du?»
«Wer deine Zeichnungen und die winzigen Glasbilder gesehen hat, weiß, dass dir nichts entgeht. Und ich wusste nicht, dass du Freunde in der Stadt hast.»
Rosina fand, sie höre sich an wie ihr Vater, als er sie Latein lehrte, während sie nur Augen für den Globus hatte.
«Du meinst die Leute, mit denen ich gerade gesprochen habe? Die sind keine Freunde. Ich habe sie nach dem Weg gefragt, und sie waren so nett, mich bis zur Straße zu begleiten. Dort drinnen», sie zeigte vage nach dem düsteren Gang, «geht man leicht verloren, wenn man sich nicht auskennt. Und ich», betonte sie, «kenne mich überhaupt nicht aus.»
«Verzeih, Maline, ich wollte nicht neugierig erscheinen. Obwohl», Rosina zog seufzend die Nase kraus, «genau betrachtet bin ich meistens neugierig. Was, um Himmels willen, wolltest du dort? Verflixt, ich bin schon wieder neugierig. Vergiss die dumme Frage. Aber du solltest vorsichtig sein, Maline. In den Gängen herrscht eine elende Armut, das wirst du gesehen und gerochen haben. Wer hungrige Bäuche nicht füllen kann oder nicht mal ein Hemd hat, und davon gibt es dort viele, ist leicht verlockt, Spaziergängerinnen um ihre Tasche und ihr Kleid zu erleichtern. Wenn du trotzdem dorthin willst – ich bessere mich, das war keine Frage –, nimm Titus mit. Oder Muto. Am besten beide. Geh nicht allein, Maline. In einer so großen Stadt ist man nicht nur leicht verloren, man wird auch nur schwer wiedergefunden. Und nun lass uns gehen, mir ist kalt und ich habe schrecklichen Hunger. Jetzt wäre dein wollenes Schultertuch gerade richtig. Wo ist es? Du nimmst es doch sonst immer mit.»
Maline zuckte die Achseln. «Ich hab’s verloren. Ich weiß nicht einmal mehr, wo.»
«Schade», sagte Rosina, «es war schön. Ein Grund mehr zur Eile. Die anderen sind sicher längst im
Bremer Schlüssel
, haben es warm und essen sich satt. Du kommst doch mit?»
Maline nickte. Sie folgte schweigend Rosinas rascher werdenden Schritten.
«Ich habe keine Angst», sagte sie plötzlich, als sie in die breitere Düsternstraße einbogen. «Aber es ist freundlich, dass du dich sorgst.»
Ihre Worte klangen steif und als habe sie sie genau bedacht. Rosina antwortete mit einem raschen Lächeln, sie verstand genug von den Tönen zwischen den
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