Der Tote im Eiskeller
Wenn auch sein Vater, der liebe verblichene Monsieur Malthus, nicht sofort dieser Meinung war. Nein, das war er wirklich nicht.»
Wilhelm Malthus, so erfuhren Augusta und Anne nun, hatte sich zunächst geweigert, seinen heimgekehrten Sohn zu sehen, und sogar verboten, ihn überhaupt einzulassen. Woran sich Ernestine als gehorsame Ehefrau strikt hielt – es gab andere Orte, ihren Sohn zu treffen, zum Beispiel im Haus der Nachbarn.
Als Madame Polter an dieser Stelle angekommen war, es hatte geraume Zeit in Anspruch genommen, wurde die Schilderung der ersten heimlichen Treffen von Mutter und Sohn ungemein ausschweifend. Als sie beim dritten Treffen angelangt war, die ergreifenden Szenen samt genauer Abfolge der Speisen schilderte, die Mutter und Sohn im Hause Polter serviert bekommen hatten, drohten Augustas Versuche, sie zu unterbrechen, an Höflichkeit zu verlieren. Da endlich brachte das Mädchen die heiße Schokolade,und Madame Polter verstummte, um mit seligem Lächeln den herbsüßen Duft einzuamten.
«Zum leiblichen Trost möchte ich auch beitragen», sagte Augusta rasch, bevor Madame Polter mit dem Bericht über das vierte Treffen beginnen konnte. Sie griff in den Korb, den sie unter den Tisch geschoben hatte, und stellte eine kleine Karaffe Rosmarinbranntwein und eine Spanschachtel mit Elsbeths frischen, mit gehackten Pistazien bestreuten Anisplätzchen auf den Tisch.
«Der Branntwein soll Madame Malthus trösten», erklärte Anne und steckte das Spitzentuch in ihr Samtbeutelchen zurück, überzeugt, ihr Gesicht zeige nun wieder eine angemessen Anteil nehmende Miene. «Aber Euch wird ein Schlückchen auch gut tun, Madame Polter. Ihr tragt in diesen Tagen eine kaum minder schwere Last. Nicht wahr, Augusta?»
«Unbedingt. Und Euer Anteil an der Versöhnung, Madame Polter, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Sicher habt Ihr auch dafür Sorge getragen, dass Monsieur Malthus sich mit Viktor ausgesöhnt hat?»
«Leider nein», erwiderte Madame Polter, holte drei Gläser aus der Vitrine, stellte sie auf den Tisch und griff nach der Karaffe. «Es wäre mir eine solche Freude gewesen, aus reiner Christenpflicht, denn wie heißt es in der Bergpredigt?» Sie hob ihr Glas, schnupperte mit Behagen an der bräunlichen Flüssigkeit und nahm mit zierlich gespreizten Fingern einen ordentlichen Schluck. «Gehe hin und versöhne dich mit deinem Bruder, ja, so heißt es. Auch Vater und Sohn sind doch Brüder in Christo. Diese Versöhnung ist einzig Madame Malthus’ Verdienst. Ein Mutterherz, sage ich immer, ein Mutterherz vermag alles. Berge versetzen. Sozusagen. Glaubt mir, Madame Kjellerup», bereitwillig ließ sie sich ihr Glas nachfüllen, stellte es nach kurzem Zögernauf den Tisch und nahm brav ein Schlückchen Schokolade, «Wilhelm Malthus war ein Berg, um nicht zu sagen: ein Fels. Nun ja, manchmal auch ein Vulkan, wenn Ihr versteht, was ich meine, seine Stimmungen konnten heftig sein. Und laut. Aber auch in einem Fels schläft ein Vaterherz, ja, und Ernestine», ein kleines Kichern entschlüpfte ihren Lippen und sie beugte rasch den Kopf, «die gute Ernestine hat auch ihre Qualitäten. Steter Tropfen höhlt den Stein. Tropf, tropf, tropf. Das führt auch zum Ziel. Was sonst sollen wir schwachen Geschöpfe tun.»
Anne öffnete tief Luft holend den Mund, Augusta räusperte sich vernehmlich, und Annes Lippen schlossen sich wieder.
Es sei eine Freude gewesen zu erleben, wie Vater und Sohn wieder zueinander fanden, plapperte Madame Polter weiter. Und bitter, als das Familienglück nur so kurz währte. Schon wenige Tage nachdem Viktor wieder in das elterliche Haus eingezogen sei, sei Wilhelm Malthus gestorben.
«Ach», sie schüttelte mit Bedauern den Kopf und sah mit gespitztem Mund zu, wie ihr Glas zum dritten Mal gefüllt wurde, «der liebe Wilhelm. So plötzlich dahin, aber anders als sein armer Sohn wenigstens mit den Segnungen der Kirche. Er hätte so gerne noch sein Testament geändert, doch leider, das Schicksal wollte es nicht.»
«Ja, das Schicksal. Mit dem Hammer, wie Ihr richtig sagtet.» Anne fürchtete, ihre Ungeduld nur unzulänglich zu verbergen. «Sicher wusste die Familie, wie er es ändern wollte. Es wäre nur recht und billig gewesen, wenn Madame Malthus und ihre Söhne seinen Wünschen auch ohne gesiegeltes Dokument gefolgt wären.»
«Natürlich war es bekannt. Nur in der Familie, das versteht sich, aber Ernestine vertraut mir alles an. Er wollteViktor wieder in seine Rechte als
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