Der Tote im Eiskeller
den Fahrenden üblich sei, dumme Fragen nach dem Woher und Wohin zu stellen.
‹Ja›, hatte Matti gemurmelt, ‹guter Obhut.› Und nun bedauere sie doch, schon so alt zu sein. Zu alt, diesem prächtigen Kind, dem sie auf die Welt geholfen habe, auf Dauer ein neues Zuhause zu geben. Denn das brauche es: ein neues Zuhause.
‹Komm nicht auf unnütze Ideen›, hatte Lies gesagt, als Rosina sich verabschiedete, ‹der Junge braucht ein Zuhause und Beständigkeit, keinen Komödiantenkarren.›
Dann standen sie an der Gartenpforte, nah beieinander, Lies mit den schwarzen Tuch über krummen dünnen Schultern, Matti mit dem schläfrigen Jungen auf dem Arm, und winkten ihrer jungen Freundin nach.
Rosina schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper und ließ noch einmal, als sei es ein Abschied, den Blick über den Fluss wandern. Auf seiner Mitte legte sich die letzte Fähre zum südlichen Ufer in den Wind, und sie überlegte, wie weit es bis nach Göttingen war. Fünf Tage mit der Kutsche? Ein Reiter kam schneller voran. Was tat Magnus dort? Und – das vor allem – warum schrieb er nicht? Vielleicht hatte Helena Recht, wenn sie behauptete, er sei geflohen, habe ‹sich davongemacht›.
Wie sie es hasste, dieses ‹sich davongemacht›. Es klang so feige, so kleinmütig. Und so demütigend. Aber so war Magnus nicht. Er musste einen guten Grund haben. Ganz sicher hatte er einen wirklich guten Grund. Bevor diese so tröstliche wie brüchige Gewissheit schwand, raffte sie ihre Röcke und rannte das letzte Stück des Weges zum Millerntor.
Es war allerhöchste Zeit. Als sie die steinerne Brücke über den Stadtgraben erreichte, standen die Wachen schon bereit, das Tor zu schließen, und als sie in das Gewölbe rannte, versank der schmale gleißende Streifen der Sonne hinter dem Horizont, und der Himmel über dem Fluss brannte über aufsteigenden Nebeln.
Die Soldaten feixten, einer präsentierte das Gewehr und rief ihr etwas nach, das sie lieber überhörte, doch keiner hielt sie mehr auf, um zu prüfen, ob sie unter ihren Röcken etwas in die Stadt schmuggele. In dem tunnelgleichen Gewölbe war es schon so dunkel, dass die Bildsäulen mit den Allegorien der Klugheit, der Einigkeit und des Friedens eher feindlichen Schatten glichen. Kein Wunder, wenn die Leute das Millerntor mit seinem fast neunzig Fuß langen Gewölbe Düsterntor nannten.
Auf dem Platz vor der Stadtseite des Tores, auf der oberen und auch der unteren Wallstraße herrschte Feierabendstimmung. Die Fuhrwerke und die hastenden Dienstboten und Arbeiter hatten promenierenden Paaren und Grüppchen von jungen Männern und Frauen Platz gemacht, der Zimtkringelverkäufer bot im müden Schein einer Papierlaterne seine letzte Ware an, vor den Soldatenhütten saßen ein paar Männer, rauchten stinkenden Tabak in langen Tonpfeifen und spielten auf einer umgestülpten Kiste Würfel. Zwei Hunde lagen, die Köpfe auf den ausgestreckten Vorderpfoten, schlafend zu ihren Füßen, ein paar Jungen zielten mit einem abgenutzten Hufeisen nach einem in die Erde gesteckten Ast und johlten bei jedem Treffer. Den Sieger erwartete ein tiefer Schluck aus der Bierkruke der Würfelspieler.
Rosina bog in die Straße zum Großneumarkt ein. Auf dem Platz hatten die Laternenanzünder ihre Arbeit begonnen, der unangenehme Geruch des Rüböls folgte ihnen wie einSchatten. Gegenüber der Hauptwache und dem Brunnenhaus boten noch Straßenhändler ihre Ware feil: kleine Windräder und Blasrohre für die Jungen, hölzerne Puppen für die Mädchen, Sträußchen von Astern und Phlox oder aus in der hereinbrechenden Dunkelheit goldgelb leuchtendem Sonnenauge, Lavendel und anderen wohlriechenden Kräutern. Sie hätte gerne Lavendel für ihre Kleiderkiste gekauft oder eine der süßen gelben Melonen, die in einem Korb neben dem Puppenverkäufer auf Kundschaft warteten, aber ihre Taschen waren leer, und sie ging rasch weiter.
Der Duft der Melone ließ sie ihren Hunger spüren, außer dem süßen Brot aus Konstantinopler Quitten, das Matti von den ersten reifen Früchten gemacht und zum Apfeltee serviert hatte, hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Die Vorstellung eines dampfenden Tellers von Jakobsens deftigen Suppen und einer dicken Scheibe würzigen Roggenbrots ließ sie schneller gehen. Nur noch durch den Alten Steinweg und die Düsternstraße und schon war die Fuhlentwiete und mit ihr das Gasthaus
Bremer Schlüssel
erreicht.
Der Alte Steinweg war schmal und dunkel, nur an seinem
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